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Christa PfafferottUnter MenschenEin Blick wie ein Schrei

Foto: privat

Christa Pfafferott

ist Autorin und Dokumentar-filmerin. Sie hat über Machtverhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.

Da sind weit aufgerissene Augen. Ein Blick wie ein Schrei. Dieser verlorene Blick. Vor dem ich mich manchmal ducke, die Schultern einziehe. Denn wenn er dich trifft, dann hat dich der verlorene Blick. Dann gehst du darin verloren.

Ich fahre auf der Brücke neben dem Hauptbahnhof. Unter mir rattert ein Zug, über mir brennt die Sonne. Der Blick kommt auf mich zu. Er gehört zu einem Radfahrer. Er trägt ein fleckiges Unterhemd, seine Haare sind wirr. Und da ist dieser verlorene Blick, der nichts mehr zu verlieren hat. In dem die Wut steckt. Und in dem die Angst fehlt. „Bist du Ausländer oder Deutsche?!“ Der Mann schreit mich an. Er schaut voller Hass. Er schlingert mit seinem Fahrrad hin und her, sodass ich nicht vorbei kann. Mein Instinkt rät mir, es auch nicht zu versuchen, nicht an das Brückengeländer heran.

„Bist du Ausländer oder Deutsche?“ Die Frage knallt wie ein Pfosten an meinen Kopf.Ausländer. Oder. Deutsche. Wie ein tiefer Graben liegt das „oder“ zwischen zwei Wahrheiten, die er abgesteckt hat. Ich spüre, dass meine Antwort über alles entscheiden wird. Aber ich will nicht, dass meine Nationalität seine Wut bestimmt. Ich antworte nicht, gebe vor, mich nicht angesprochen zu fühlen. Doch es ist zu spät. Ich hänge mit drin, in der Frage, im Blick. Auf der Brücke, zwischen den Seiten. Zwischen Ausländern und Deutschen. Jetzt geht es nur noch vor oder zurück. Ich wende mein Rad und fahre zurück, davon.

„Ausländer oder Deutsche?“ Der Mann spricht selbst mit Akzent. Jetzt fährt er dicht hinter mir. Meine Gedanken rauschen: Als was sieht er sich wohl selbst? Welche Antwort könnte ihn eher besänftigen? „Können Sie mir mal helfen?!“, rufe ich einem Mann zu, der auf der Brücke steht, ein Handy am Ohr. Er schaut uns an und telefoniert weiter.

„Ausländer oder Deutsche?“ Ich spüre, dass der Mann jetzt eine Reaktion braucht. Er muss sich gesehen fühlen, sonst dreht er durch. „Ich bin Deutsche!“ Ich spreche den Satz wie in einen dunklen Brunnen hinein, von dem ich nicht weiß, welches Echo daraus erklingen wird. Alles fühlt sich falsch an. Dass ich diesen Satz rufe. Auf einer Brücke. Dass ich mich auf sein Entweder-Oder eingelassen habe. Und die Antwort ist auch falsch:

„Dann bist du auf der anderen Seite!“, schreit der Mann. „Dann bist du auf der anderen Seite!“

Ich habe jetzt Angst. Ich brauche Hilfe. Ich rufe einem anderen Passanten zu, ob er stehenbleiben kann. Ich biege ab und flüchte in die Straße, die am Theater vorbeiführt. Eine Frau mit Kinderwagen stoppt und schaut uns hinterher.

Und dann, als würde sich etwas umschalten, lässt der Mann auf dem Rad plötzlich von mir ab. Fährt schreiend weg. Als hätte ihm meine Antwort doch ein Ziel gegeben für seine Wut, sodass sie nicht mehr in alle Richtungen flirrt. Ich warte, ob er wirklich fort ist, dann fahre ich wieder über die Brücke, an dem Mann mit dem Telefon vorbei. Jetzt dreht er seinen Zeigefinger neben der Stirn: „Irre“, sagt er und lächelt.

An der nächsten Ampel drücke ich mechanisch immer wieder den Knopf, damit es grün wird. Ich bin durcheinander. Ich weiß, ich war zufällig diejenige, die in den Film des Mannes geraten war. Doch ich spüre immer noch seine Energie. Seine Wut und auch seinen Schmerz, der darunter lag. Warum habe ich nicht geantwortet: „Ich bin Hamburgerin“? Warum nicht: „Ich bin Autorin“? Eine der vielen Möglichkeiten, die meine Identität ausmachen. Was muss er erfahren haben, dass er die Begegnung mit einem Menschen in Nationalitäten aufschneidet? Ich denke auch daran, dass ich das in letzter Zeit häufiger so wahrnehme: die verlorenen Blicke. Unabhängig von jeder Nationalität. Dass Menschen eine Wahrheit um sich herum bauen, die sie wie ein Panzer schützen soll. Du stehst auf meiner Seite oder auf der anderen.

„Ausländer oder Deutsche?!“ Was ist passiert, dass ein Mensch diesen Satz schreit? Auf welche Seite ist er selbst gestellt worden? Ich überlege, wann Menschen, deren Blick verloren gegangen ist, innerlich abgebogen sind. Wie sich ein Blick retten ließe, bevor er verloren geht.

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