piwik no script img

China als Sportnation"Hey, wir sind ja eigentlich ganz gut!"

China hat bisher die meisten Goldmedaillen gewonnen und ist damit erstmals die stärkste Sportnation der Welt. Dreht die Volksrepublik jetzt durch?

Die Olympischen Spiele haben nicht viel mit dem chinesischen Alltag zu tun. Bild: dpa

PEKING taz Sie trägt die hellblaue Uniform des Pekinger Landao-Kaufhauses. Sie nimmt einen 100-Yuan-Schein entgegen. Da ertönt laut die chinesische Nationalhymne im Kaufhaus. "Ach toll", sagt die Kassiererin, "wir haben wieder Gold gewonnen." Sie sagt das spontan, wirkt erfreut, aber nicht überrascht. Sie will nicht wissen, was für eine Goldmedaille es war. Sie ist gleich wieder bei der Arbeit und gibt das Wechselgeld zurück.

Noch ein paar Tage, dann wird China womöglich die meisten Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen gewonnen haben und erstmals die stärkste Sportnation der Welt sein - auch wenn amerikanische Medien wie das Magazin Sports Illustrated die Medaillen jetzt anders zählen und lieber die Gesamtzahl der Medaillen als Maßstab setzen, damit die USA vor China liegen. Trotzdem wird niemand den chinesischen Erfolg infrage stellen. Aber wie gehen die Chinesen damit um? Steigern sie sich jetzt in einen nationalistischen Goldrausch?

Wer ins staatliche Fernsehen schaut, sieht fast nur chinesische Siege. Dort übertrumpfen sich die Kommentatoren gegenseitig im Siegesgeschrei, geben sich nur selten Mühe, den Gegner zu würdigen. "China ist super. Wir sind toll", schreien sie. "Du machst dem Vaterland Ehre", schwärmen sie bei der Siegerehrung. "Guter Ball", sagen sie, wenn die Gegner beim Basketball den Korb nicht trifft.

Das Überdrehte ihrer Kommentare findet sich noch in manchen Beiträgen im Internet, aber sonst spiegelt es die Stimmung nicht wider. Schon die staatlich zensierten Zeitungen jubeln zurückhaltender. US-Schwimmer Michael Phelps schaffte es am Montag auf die Titelseite der Neuen Pekinger Zeitung. Er war der Zeitung wichtiger als alle acht chinesischen Goldmedaillengewinner des Vortags. Ein Zeichen, das sich das chinesische Publikum für mehr interessiert als den programmierten Jubel für die eigenen Sportler.

"Man freut sich an den Medaillen für China, aber vor allem am schönen Spiel", sagt die Pekinger Modeschöpferin Liu Hongying. Sie ist am Montag nach Hongkong gefahren, um sich das olympische Pferdespringen anzusehen. Nicht weil die Chinesen dabei große Siegeschancen hätten, sondern weil es ihr Lieblingssport sei. "Wir sind schon ein bisschen stolz auf die vielen Medaillen, aber nicht im nationalistischen, überheblichen Sinn", sagt Liu. Es sei eher so, dass man als Chinese das eigene Land bisher nicht als große Sportnation sah und sich nun sage: Hey, wir sind ja eigentlich ganz gut.

Sun Zhengze, Student an der Peking-Universität, will sich dagegen von den Medaillen nicht blenden lassen: "Wir haben nur ein paar Spitzensportler ausgebildet. Das heißt nicht, dass die Chinesen heute im Allgemeinen sportlicher sind", sagt Sun. Den Sommer verbringt er mit Arbeit an der Uni, er schaut sich die Spiele kaum an. Die Aufregung kann er nicht verstehen. "Wir sind das größte Volk der Welt. Warum sollten wir nicht viele Medaillen gewinnen?", sagt Sun. Kritisch betrachtet der bekannte Pekinger Feuilletonist Pan Caifu den Medaillenrausch. "Ich freue mich über jeden Chinesen, der gewinnt, aber der Medaillenspiegel hat für mich keinerlei Bedeutung", sagt Pan. Das staatliche Sportsystem sei nur darauf ausgerichtet, Goldmedaillengewinner zu produzieren, sagt Pan. Man erkenne es daran, dass China mehr Gold als Silber oder Bronze gewonnen habe. Dieses System aber habe nichts mit dem normalen Leben der Chinesen zu tun. "Deshalb freue ich mich auch nicht, wenn China an erster Stelle des Medaillenspiegels liegt", sagt Pan.

Doch sehe er keine übertriebene Reaktion, keine "perverse Freude" beim Publikum. Im Gegenteil, die chinesischen Zuschauer seien besser als früher. Da habe man den berühmten Turner Li Ning als Vaterlandsverräter beschimpft, als er bei den Spielen 1988 in Seoul von den Ringen fiel und seine Goldmedaille von 1984 nicht verteidigen konnte. Viel verständnisvoller seien nun die Reaktionen auf das Scheitern des Hürdenläufers Liu Xiang.

Dieser Übergang vom Jubel um Liu und zurück zur Normalität wird sich wohl auch am Montag nach den Spielen zeigen. Dann wird China nicht mehr an Medaillen, sondern wieder ans Geschäft denken. So wie die Kaufhauskassiererin gleich nach dem Erklingen der Nationalhymne.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!