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Chiapas kommt nicht zur Ruhe

■ Die Unruhen im südamerikanischen Bundesstaat Chiapas dauern an / Die Indianerrebellen lehnen Verhandlungsangebot der Regierung ab / Nach amtlichen Angaben gab es bisher mindestens 86 Tote

Mexiko-Stadt/Altamirano/ Bonn (afp/dpa) – Die Gefechte zwischen den indianischen Guerillakämpfern und der Armee in Südmexiko haben auch am Montag abend (Ortszeit) angedauert. Seit dem Beginn des Aufstands der linksgerichteten Guerillaorganisation „Zapatistisches Nationales Befreiungsheer“ (EZLN) am Neujahrstag sind nach amtlichen Angaben mindestens 86 Menschen getötet worden. Anderen Quellen zufolge starben bei den Auseinandersetzungen weit über hundert Menschen.

Von seiten der Regierung hieß es, die einzige Stadt im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas, die sich noch in der Gewalt der Rebellen befinde, sei Altamirano. Nach den Städten San Cristóbal de las Casas und Las Margaritas hätten die Regierungssoldaten am Montag auch die Kontrolle über Ocosingo übernommen. Angesichts eines möglicherweise bevorstehenden Angriffs der Guerilleros auf Tuxtla Gutiérrez, die Hauptstadt des Bundesstaates, sei die Militärpräsenz dort verstärkt worden.

Journalisten berichteten unterdessen, die Rebellen, von denen viele nur gebrochen Spanisch sprechen, kontrollierten außer Altamirano noch mehrere andere Ortschaften sowie Teile der Straße von San Cristóbal de las Casas nach Altamirano. Die Zapatisten errichteten den Angaben zufolge in der Region zahlreiche Straßensperren, an denen sie von vorbeifahrenden Autofahrern eine „Kriegssteuer“ von umgerechnet etwa 30 Mark verlangten. Verhandlungen mit der Regierung lehnten die Rebellen ab. Nach dem Bericht eines AFP-Korrespondenten sagten mehrere Anführer des Aufstands, sie wollten ihren Kampf „bis zum Sieg“ fortsetzen. Die mexikanische Regierung hatte zuvor ihre Verhandlungsbereitschaft erklärt, um die Unruhen beizulegen.

Die Aufständischen warfen der mexikanischen Regierung „Völkermord“ an den Indianern vor und riefen zum Kampf für soziale Rechte und zur Befreiung der indianischen Bauern und Landarbeiter von der Unterdrückung und Ausbeutung durch Staat und Großgrundbesitzer auf. Außerdem kündigten sie einen Marsch auf die Hauptstadt Mexiko-Stadt an.

Unruhen sind in dem aus Revolution und Gegenrevolution geborenen Mexiko in letzter Zeit selten geworden. Das Land hat einen Grad von Ruhe und Stabilität erreicht, um den es viele seiner mittelamerikanischen Nachbarn beneideten. Der letzte Aufstand war im Jahr 1974. Er wurde angeführt von Lucio Cabanas. Auf dem Höhepunkt seiner Guerillabewegung hatte die Armee 16.000 ihrer besten Soldaten in den Bergen der Sierra Madre de Atoyac unweit des Urlaubsparadieses Acapulco eingesetzt. Cabanas war Volksschullehrer in einem verarmten Bergdorf. Bei einer Demonstration, auf der er sprach, wurde ein Polizist mit einem Messer verletzt. Truppen feuerten daraufhin in die Menge und töteten acht Menschen. Cabanas floh in die Berge, führte eine Guerillabewegung an und wurde zur Legende. Mindestens 50 Soldaten bezahlten ihre Jagd auf ihn mit dem Leben. Obwohl der harte Kern seiner Rebellengruppe angeblich nur 300 Mitglieder umfaßte, soll Cabanas große Unterstützung von der Landbevölkerung genossen haben. 1974 wurde er bei einem Feuergefecht mit der Armee erschossen. Zu ungefähr dieser Zeit schlossen sich rund ein halbes Dutzend kleinerer Rebellengruppen zu der sogenannten Kommunistischen Liga des 23. September zusammen, die in Mexiko eine ländliche Guerillabewegung ins Leben zu rufen versuchte. Sie bekannte sich zu Anschlägen auf Sicherheitskräfte, verstummte aber schon Mitte der 70er Jahre. Seither gab es bis zum Auftauchen der zapatistischen Guerilla in Chiapas keinen organisierten bewaffneten Widerstand mehr.

Aus San Cristóbal de las Casas sind nach Angaben des Auswärtigen Amtes in Bonn zahlreiche Touristen herausgebracht worden. Doch seien noch mindestens zwölf Deutsche zurückgeblieben. Über die geplante Abfahrt eines dritten Busses liege keine Bestätigung vor. Unbekannt sei auch, wie viele deutsche Individualreisende sich noch in dem Krisengebiet aufhalten. Das Bonner Außenministerium rät derzeit von Reisen in das Hochland von Chiapas, insbesondere nach San Cristóbal, ab.

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