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Chemiestunde am Zapfhahn

Eine Schule in Sachsen-Anhalt erprobt die 4-Tage-Woche. Am fünften Tag arbeiten die Schüler:innen in Betrieben. Das Experiment zeigt: Das kann auch pädagogisch sinnvoll sein

Geübt zapft der 15-jährige Daniel Bier für seine Gäste im Brauhaus in Wittenberg

Aus Wittenberg Ralf Pauli (Text) und Wolfgang Borrs (Foto)

Einmal die Woche hat Daniel richtig Spaß an der Schule. Immer donnerstags darf der 15-Jährige ins Brauhaus, statt sich mit Englisch oder Mathe rumzuquälen. Auch an diesem kühlen Donnerstagvormittag Ende Mai bindet er sich – drahtige Figur, kurzärmeliges Hemd, Undercut – eine Kellnerschürze um die Taille und beobachtet, wie sich die ersten Gäste an einen der rustikalen Holztische setzen. Die Restaurantleiterin nickt, das Zeichen für Daniel loszulegen.

Der Junge setzt ein Lächeln auf und schreitet zu der vierköpfigen Familie, die sich den Königsplatz gesichert hat, direkt neben der ochsenblutroten Luther-Statue, dem Wahrzeichen der Stadt Wittenberg. „Was darf es zu trinken sein?“, fragt Daniel freundlich und zückt seinen Kellnerblock. Es klingt so unaufdringlich, wie es nur routinierte Servicekräfte hinbekommen.

Seit zehn Monaten lernt Daniel den Alltag in der Gastro kennen – und das hat viel mit dem Lehrkräftemangel in Deutschland zu tun. Vor allem Schulen auf dem Land müssen sich seit Jahren immer kreativere Lösungen einfallen lassen, damit nicht noch mehr Unterricht ausfällt. Auch, weil die Reserve an Pensionär:innen, Studierenden oder Quereinsteiger:innen, die vielerorts die Lücken im Kollegium füllen, weitgehend erschöpft ist.

In Sachsen-Anhalt ist die Personalnot besonders dramatisch. Nach Angaben des Bildungsministeriums in Magdeburg fehlen aktuell 568 Lehrkräfte. An manchen Sekundar- oder Gemeinschaftsschulen fällt im Schnitt jede fünfte Stunde aus. Und so testet Sachsen-Anhalt als erstes Bundesland eine Art Vier-Tage-Woche für Schüler:innen.

In der Arbeitswelt sind flexible Arbeitszeiten schon lange üblich, gelten als Ausweis moderner Unternehmenskultur. Im System Schule ist die Vier-Tage-Woche aber eigentlich kaum denkbar. Zu starr ist das System, zu wenig Freiheiten haben Schulen bei solchen Entscheidungen, zu aufwendig sind meist die Hürden für ein Go aus dem Ministerium.

Pädagogische Reformprojekte wie an Daniels Schule könnten aber die Lernerfahrung einer ganzen Generation bereichern. An vier Tagen haben die Schü­le­r:in­nen regulären Unterricht, am fünften Tag finden analoge oder digitale Selbstlernzeiten, Projekttage oder – wie an Daniels Schule – Praxislerntage in einem Betrieb statt. „4+1“ heißt das Pilotprojekt deshalb. Vor drei Jahren startete es mit zwölf Schulen – nach Ende der Testphase letzten Sommer hat das Ministerium das Modellprojekt für zwei weitere Jahre genehmigt. Die Rosa-Luxemburg-Gemeinschaftsschule in Wittenberg, auf die Daniel geht, ist von Anfang an dabei. Wie viel Potential steckt also in Pilotprojekten dieser Art, dem veralteten Schulmodell ein Update zu verpassen?

Daniel hat die ersten Getränke serviert: vier Gläser Rotkäppchen-Sekt, eine große Flasche Sprudel und ein Gin Tonic, alkoholfrei. Die Familie prostet sich zu. Da ist Daniel schon am Nachbartisch, wo ein Dunkles und ein Radler verlangt werden. Kurz darauf steht der Schüler an der Schenke und zapft, hinter ihm glänzen zwei mächtige Sudkessel aus Kupfer. Auf das selbst gebraute Bier sind sie im Brauhaus stolz. Auch auf ihren jungen Mitarbeiter: „Daniel ist ein Naturtalent“, sagt die Restaurantleiterin. Dass einer mit 15 schon so souverän mit Kunden umgeht, erleben sie hier nicht alle Tage. Deswegen hat das Brauhaus dem Achtklässler einen Job als Bierbrauer angeboten – wenn er seinen Schulabschluss packt und drei Jahre in die Lehre geht.

Schulleiterin Silvana Gries kämpft dafür, dass alle ihre Schü­le­r:in­nen so gute Berufsaussichten erhalten. Leicht sei das jedoch nicht, wenn so viel Unterricht ausfällt, erzählt Gries. Die 37-Jährige führt durch das denkmalgeschützte Schulgebäude und erzählt von Schultagen, an denen die Jugendlichen nur zwei oder drei Stunden hatten. Damals, als sie vor drei Jahren die Gemeinschaftsschule Rosa-Luxemburg übernahm, fand nur rund 60 Prozent des Unterrichts statt. Heute sieht es besser aus: Die Unterrichtsabdeckung liegt bei über 80 Prozent – weil der Praxislerntag für spürbare Entlastung sorgt. Aber auch, weil Sachsen-Anhalt den Seiteneinstieg kürzlich auch für Meisterberufe geöffnet hat.

Zu Gries’ Kollegium gehören seither unter anderem zwei Köche, ein Zimmermann und eine Keramiktechnikerin. Für manche Fächer findet die Schulleiterin aber trotzdem kein Personal. Aktuell fehlen ihr Lehrkräfte für Chemie, Mathe, Deutsch, Ethik und Technik. „Wir merken, dass selbst bei den Seiteneinsteigenden die Teiche leer gefischt sind“, sagt Gries, die selbst Ökonomie, Technik, Theologie und Musik unterrichtet. Vor allem merkt sie, dass nur wenige qualifizierte Lehrkräfte auf dem Land und in Schulen arbeiten möchten, wo überwiegend Schü­le­r:in­nen lernen, die früher auf die Haupt- oder Realschule gegangen wären. „Viele Bewerbungen haben wir nicht.“

Auch im Rest der Republik ist die Personalsituation vor allem an jenen Schulen prekär, an denen Haupt- und Realschulabschlüsse angeboten werden. Eine taz-Umfrage unter den Bildungsministerien zeigt: Auch in anderen Ländern ist die Unterrichtsabdeckung an den Gymnasien in der Regel deutlich besser als an den anderen Schulformen, teils liegen wie in Niedersachsen fast zehn Prozentpunkte dazwischen.

Die Bildungswissenschaftlerin Sonja Nonte von der Universität Osnabrück sieht darin eine zusätzliche Ungerechtigkeit im Schulsystem. Aus ihrer Sicht wäre viel gewonnen, wenn die Politik mehr für eine gerechte Verteilung der Lehrkräfte tun würde. Bisher schicken nur wenige Länder wie Nordrhein-Westfalen Gym­na­si­al­leh­re­r:in­nen vorübergehend an weniger gut versorgte Schularten. „Solche Abordnungen sind natürlich nicht beliebt“, sagt Nonte. „Mit Blick auf die Chancengerechtigkeit wären sie aber dringend nötig, wenn beispielsweise finanzielle Anreize nicht wirken.“

Daniel ist der erste in seiner Familie, der es aufs Gymnasium geschafft hat – und dort nur kurz blieb. Bis zur siebten Klasse kam er noch ganz gut mit, dann zog Daniel mitten im Schuljahr von der Kleinstadt Jessen in einen Vorort von Wittenberg, verpasste mehrere Wochen Unterricht. Zum Schuljahresende hatte er auf dem neuen Gymnasium eine Sechs in Bio und Fünfen in Englisch, Mathe, Deutsch und Geografie. Die Klasse wiederholte er dann gleich auf der Gemeinschaftsschule. „Ich dachte, da komme ich dann besser mit“, erzählt Daniel in einer kurzen Pause vor der Braustube. Seine Eltern waren auch nicht enttäuscht – im Gegenteil: „Sie waren stolz, dass ich es versucht habe.“ Seine Mutter und sein Vater haben je einen Realschulabschluss, arbeiten in der Kurzzeitpflege und in einer Großbäckerei.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Daniel eines Tages Abitur macht, ist statistisch gesehen ziemlich niedrig. In kaum einem westlichen Industriestaat hat die soziale Herkunft einen so starken Einfluss auf den späteren Schulabschluss wie in Deutschland.

Zumal sich das Elternhaus auch auf die Bildungsambitionen der Kinder auswirkt, sogar noch stärker als auf deren Leistungen. Das gilt auch in anderen Ländern, wie eine Sonderauswertung der Pisa-Studie 2022 durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt. Demnach schließen Jugendliche aus armen oder Nichtakademikerhaushalten bessere Jobs für sich tendenziell aus – selbst wenn sie zu den Besten ihrer Klasse gehören. Sie trauen sich also vor allem die Jobs zu, die sie aus ihrem privaten Umfeld kennen.

Daniel orientierte sich zunächst an seiner Familie: „Ich wollte zur Bundeswehr, weil mein Onkel dort arbeitet und er für mich ein Vorbild ist.“ Auch Handwerker hätte er sich vorstellen können, wie sein Großvater. In seinem Freundeskreis sieht es ähnlich aus, viele wollen Elektriker oder Kfz-Mechaniker werden. Studieren will niemand, bis auf eine Freundin, die Ärztin werden will. Allerdings lasse der Wunsch bei ihr aktuell nach, erzählt Daniel. Sie realisiere gerade, dass ihre Noten dafür wohl nicht ausreichen werden.

Nach der OECD-Sonderauswertung ist Deutschland internationales Schlusslicht darin, Jugendlichen ein realistisches Bild von den verschiedenen Berufen zu vermitteln, vor allem Schü­le­r:in­nen aus nichtakademischen Haushalten. Mehr als je­de:r zweite von ihnen weiß nicht, ob man dafür studieren oder einen anderen Ausbildungsweg absolvieren muss.

Um eines Tages als Bierbrauer zu arbeiten, weiß Daniel heute, dass er nach seinem Abschluss drei Jahre eine Ausbildung als Brauer/Mälzer absolvieren muss. Die praktische Ausbildung kann er im Brauhaus machen, für die begleitende Berufsschule wird er wahrscheinlich nach Dresden pendeln müssen. „Dort ist die nächste Berufsschule, die diesen Ausbildungsgang anbietet“, erzählt er und man hört, dass er ein bisschen stolz ist. Die Infos hat er selbst recherchiert.

An diesem kühlen Tag ist im Brauhaus vergleichsweise wenig los, Daniel hat Zeit, über seine Zukunftspläne zu sprechen. Mit Anfang 20 will er dann, wenn alles glatt läuft, im Brauhaus die Nachfolge des jetzigen Braumeisters antreten, wenn der in Ruhestand geht. Und braut dann sein eigenes Bier: Pils, Dunkel, Weizen, Lager und Pale Ale. „Die Vorstellung finde ich richtig gut“, sagt Daniel und grinst. Weil er selbst gerne schon Bier trinkt. Vor allem aber, weil er sich zuvor noch nie wirklich mit seiner Zukunft beschäftigt hat. Nun malt sich Daniel aus, wie viel er wohl büffeln muss, um in zwei Jahren nicht nur den Hauptschul-, sondern vielleicht sogar den Realschulabschluss zu schaffen.

Jugendliche trauen sich die Jobs zu, die sie aus ihrem Umfeld kennen

Normal ist das in dem Alter nicht, weiß Schulleiterin Silvana Gries: „Viele wissen nicht, was sie später mit ihrem Leben anfangen wollen.“ In einem Alter, das ohnehin schon schwierig ist, schlage das natürlich voll auf die Motivation: „Ich höre von Schü­le­r:in­nen oft: Warum soll ich das lernen? Wozu brauche ich das später?“ Einige hätten deshalb auch Probleme mit den Abschlüssen.

Ein größeres Problem sei jedoch der Berufseinstieg: „Ein großer Anteil unserer Schü­le­r:in­nen findet keinen Ausbildungsplatz oder bricht die Ausbildung wieder ab.“ Einen reibungslosen Übergang in den Job kriegen nicht viele hin, die von der Gemeinschaftsschule Rosa-Luxemburg gehen. Als Gries vor drei Jahren aus dem Ministerium von dem „4+1“-Projekt erfuhr, habe sie sofort gewusst: „Das ist genau das Richtige für unsere Schüler:innen.“

Die Idee, die Jugendlichen in eine Art Langzeitbetriebspraktikum zu schicken, gibt es in Sachsen-Anhalt schon seit ein paar Jahren. Allerdings gab es den Praxislerntag, kurz PLT, bislang nur mit nur einem Tag alle zwei Wochen. Mit dem neuen Wochenrhythmus kann Gries alle Acht­kläss­le­r:in­nen nun jeden Donnerstag ins Praktikum schicken, alle Neunt­kläss­le­r:in­nen immer mittwochs. Insgesamt sind 180 der 420 Schü­le­r:in­nen einen Tag die Woche außer Haus. Alle sechs Monate wechseln die Schü­le­r:in­nen den Betrieb, außer sie wollen länger bleiben, wie Daniel im Brauhaus.

Mittlerweile hat die Schule ein Netzwerk von rund 180 lokalen und regionalen Partnern aufgebaut. Aus Sicht der Schulleiterin eine Win-win-Situation: „Viele kleine Handwerksbetriebe finden nur noch schwer Auszubildende. Umgekehrt erhalten die Schü­le­r:in­nen wertvolle Einblicke in einen bestimmten Berufsalltag.“ Im besten Fall entsteht ein Match.

Gries ist dabei wichtig: Es geht nicht primär um die Berufsorientierung. „Die Schü­le­r:in­nen sollen vor allem das eigenverantwortliche Lernen stärken“, sagt Gries. Das beginne damit, dass die Jugendlichen sich ihre Praktika selbst organisieren müssen: „Für manche ist das schon ein tolles Erfolgserlebnis, wenn sie eine Zusage erhalten.“ Besonders für Jugendliche, die vielleicht nicht die besten Noten mit nach Hause bringen, können die Erfahrungen im Betrieb ein Boost fürs Selbstvertrauen sein.

Zudem werde das Projekt durch schulinterne Curricula begleitet, ab der siebten Klasse steht bei ihnen im Stundenplan eine Stunde PLT an, in der sie sich auf den Praxislerntag vorbereiten und später Bewebungssituationen, Steuerklärung und dem dualen Ausbildungssystem befassen. Zwei Lehrkräfte koordinieren diesen Unterricht und besuchen auch regelmäßig die Betriebe und hören dort vor allem Lob. Über den längeren Zeitraum könnten die Betriebe die jungen Menschen viel besser kennenlernen, das bringe beiden Seiten mehr Sicherheit für die Berufswahl. Manchmal aber sei es für kleinere Betriebe schwierig, immer genug Be­treue­r:in­nen da zu haben, wenn die Schü­le­r:in­nen nur einen Tag in der Woche da sind.

Ob das „4+1“-Modell zu höheren Abschlussquoten führt, muss sich erst noch zeigen. Im nächsten Schuljahr legt an der Gemeinschaftsschule Rosa-Luxemburg der erste PLT-Jahrgang seine Prüfungen ab.

Tafel war gestern Foto: imago

An einem Mittwochvormittag Mitte Mai, eine Woche bevor die taz Daniel ins Brauhaus begleitet, sitzt rund ein Dutzend Jugendlicher der Gemeinschaftsschule in einem Klassenzimmer um eine reichlich gedeckte Tafel, belegte Brötchen, Kekse und andere Süßigkeiten – eine kleine Belohnung für jene Jugendlichen, die freiwillig von ihren Erfahrungen mit dem Praxislerntag berichten.

Der 14-Jährige Benito etwa ist aktuell bei einer Autowerkstatt. Er habe dort für seine handwerkliche Begabung schon häufiger Anerkennung bekommen, erzählt er. Anerkennung, die er bei seinen schulischen Leistungen nicht so häufig spürt.

Viele der Schüler:in­nen loben auch die Möglichkeit, sich ausprobieren zu können. Die 15-jährige Greta hat über das Praktikum im Kindergarten gelernt, dass die Arbeit mit Kindern nicht so ihres ist. Im Verkauf bei einem Raumausstatter fühlt sie sich jetzt wohler. In einem sind sich die Jugendlichen einig: Sie haben in dem einen oder anderen Moment begriffen, warum Unterrichtsfächer wie Mathe, Technik oder Englisch doch wichtig für das spätere Leben sind.

Auch Daniel hat, seit er eine berufliche Perspektive hat, ein ungewohntes Gefühl in sich wahrgenommen: Interesse für Biologie und Chemie. „Als Bierbrauer muss ich mich mit komplexen biochemischen Prozessen auskennen“, begründet Daniel. Etwa, dass beim Mälzen und Maischen die Stärke aus dem Malz in Zucker verwandelt wird und später die Hefe im Gärprozess den Zucker in Alkohol und Kohlendioxid umwandelt. In Biologie hat sich Daniel in diesem Schuljahr schon auf eine Drei gesteigert. In Chemie weiß er es nicht – weil ein Chemielehrer fehlt, bekommt er dieses Jahr keine Note. Insgesamt hat er seinen Schnitt stark verbessert: in zwei Jahren von 4,3 auf 3,2.

Die Erfolge ihres Modellprojekts konnte die Landesregierung von Sachsen-Anhalt auch in ihrer Evaluation feststellen: „Die Flexibilisierung eröffnet den Schulen Möglichkeiten, auf die Bedürfnisse ihrer Schülerschaft und die veränderten Anforderungen angemessen zu reagieren“, teilt Bildungsministerin Eva Feußner (CDU) auf taz-Anfrage mit. Vor allem den Praxislerntag möchte die Landesregierung weiter ausbauen. Ab dem kommenden Schuljahr dürfen deshalb alle Sekundar- und Gemeinschaftsschulen im Land ihre Schü­le­r:in­nen anstatt in den Unterricht regelmäßig in den Betrieb schicken. Eine entsprechende Novelle des Schulgesetzes hat der Landtag diese Woche verabschiedet.

Seit Daniel Bierbrauer werden will, hat er ein ungewohntes Gefühl in sich wahrgenommen: Interesse für Biologie und Chemie. In Biologie hat er sich in diesem Schuljahr bereits auf eine Drei gesteigert

Dasselbe gilt für ein ähnliches Modellprojekt in Sachsen-Anhalt, das „Produktive Lernen“. Im Unterschied zum „4+1“-Modell tauchen die Jugendlichen aber nicht einen, sondern drei Tage die Woche in die Berufswelt ein. Und das Angebot richtet sich nicht an ganze Jahrgangsstufen, sondern nur an einzelne abschlussgefährdete Jugendliche in Sekundarschulen. Die Grundidee ist jedoch dieselbe: Die Schü­le­r:in­nen sammeln über die praktische Arbeit Selbstbewusstsein, das sie im Schulalltag selten haben. Das Ministerium verspricht sich, so künftig mehr Jugendliche zu einem Schulabschluss und in Ausbildung zu bringen.

Auch andere Länder haben längst damit begonnen, den traditionellen Unterricht abzuwandeln, um auf die schlechte Personalsituation zu reagieren. Eine 4-Tage-Woche wie in Sachsen-Anhalt ist momentan zwar nirgends geplant, aber ab den Sommerferien ändert sich in manchen Bundesländern so einiges. In Sachsen dürfen dann weiterführende Schulen bis zu 15 Wochenstunden in Form von „digital gestützten Selbstlernens“ abhalten. Und Gemeinschaftsschulen im Saarland können die Stundentafel dann ganz ignorieren und eigene Schwerpunkte setzen – sofern einzelne Fächer über die gesamte Schullaufzeit nicht zu kurz kommen.

Die Schulforscherin Sonja Nonte hat zu dieser Entwicklung gemischte Gefühle: „Ob ein flexibler Unterricht mit mehr Selbstlernzeiten funktioniert, hängt von der Begleitung durch die Lehrkräfte ab.“ In einer laufenden Studie an 16 Gesamtschulen untersucht sie, inwieweit digitales Lernen eigenverantwortlich und selbstreguliert gelingt. Das vorläufige Ergebnis: Dort, wo Schulen selbstständiges Lernen konsequent einüben, sind die entsprechenden Kompetenzen höher.

Dies sei aber nur eine Perspektive auf die Frage, was guten Unterricht in Zeiten von Personalmangel ausmacht. Mindestens genauso wichtig sei der Blick der betroffenen Jugendlichen. Viele Schü­le­r:in­nen erlebten ja vor allem schlecht ausgestattete Schulen und, dass nicht genügend Lehrkräfte für sie da seien, sagt Nonte. „Wenn sie nun sehen, dass eine Schule mit viel Kreativität und Engagement etwas für sie auf die Beine stellt, kann das sehr viel Wert sein.“

Daniel ist dankbar für das Engagement seiner Schule, besonders donnerstags kurz vor Feierabend. Wegen des Gefühls, gemeinsam mit dem Personal im Brauhaus etwas geschafft zu haben. Egal, ob es wie heute ein ruhiger Tag war und er Zeit hatte, sich um saubere Handtücher oder die Tischdekoration zu kümmern, oder ob es den ganzen Tag brummt, weil Busladungen von Tou­ris­t:in­nen zu Mittag essen. Dankbar ist Daniel aber auch deshalb, weil er in der Regel mit etwas Trinkgeld nach Hause geht. Dieses Mal sind es fünf Euro – „ein guter Tag“, sagt Daniel. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er sich das Geld in seiner Schulzeit verdient hat.

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