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Chaos bei Justitia

■ Prozeßflut und Personalmangel bei den Gerichten in Ostdeutschland/ Vor allem die Arbeitsrichter haben alle Hände voll zu tun/ Richter müssen Schulbank drücken

Berlin (dpa) — Die Rechtsprechung in den neuen Bundesländern steht vor einem Berg von Problemen. Experten prophezeien in den nächsten Monaten „ein Chaos“. Die Zahl der Verfahren ist teilweise „um bis zu 800 Prozent“ gestiegen. Gleichzeitig ist unsicher, wie viele der rund 1.000 Richter nach Überprüfung ihrer Vergangenheit durch Richterwahlausschüsse im Amt bleiben.

Selbst wenn alle der Überprüfung standhielten, fehlen zwischen Ostsee und Vogtland nach vorsichtigen Schätzungen „wenigstens 3.000 Richter“. „Woher wir die nehmen sollen, weiß momentan niemand“, erklärte der Sprecher des Bonner Justizministeriums.

Derzeit funktioniert die Rechtssprechung jedoch noch einigermaßen. „Es wird hart gearbeitet“, meint der Vizepräsident des Dresdener Bezirksgerichts, Horst Michaelis. Die Verfahrensdauer nimmt dennoch rasant zu. Lagen früher in Schwerin zwischen Klageeingang und Urteil drei Wochen, sind es jetzt schon drei Monate. Ähnlich ist die Lage an allen Gerichten in den neuen Bundesländern.

Hauptursache: Überall fehlt das Personal. Allein in Brandenburg haben nach Angaben des Leiters des Potsdamer Justizressorts 20 Prozent der Richter nach der Wende „ihren Dienst quittiert“. Im Kreisgericht Rathenow sitzen sogar nur noch zwei der ursprünglich sechs Richter. Die Zahl der juristischen Auseinandersetzungen wächst. Dramatisch gestiegen ist durch die Entlassungswelle in vielen Betrieben vor allem die Zahl der Arbeitsgerichtsverfahren. In Schwerin müssen nun auf diesem Gebiet achtmal mehr Prozesse als noch vor einem Jahr bewältigt werden.

Die für das sozialistische Recht ausgebildeten Juristen tun sich zudem schwer mit der Anwendung des bundesdeutschen Rechts, das nach der Einigung Deutschlands fast in allen Rechtsgebieten die Grundlage bildet. „Wir müssen nachschlagen, immer wieder nachschlagen“, sagt der Vizepräsident des Dresdener Gerichts. Außerdem müssen alle DDR- Richter neben ihrer Arbeit noch einmal die Schulbank drücken.

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