Changemaker in der Bildung : Das Klassenzimmer der Zukunft
Das Künstlerpaar Adam Page und Eva Hertzsch hat ein Ufo im Ostberliner Außenbezirk Marzahn-Hellersdorf landen lassen. Ein Besuch auf der Suche nach Veränderung.
taz FUTURZWEI | Der Grashüpfer Robin lebte ursprünglich am Rande Ostbrandenburgs auf einer Wiese. Eines Tages landete er während seines Morgensports – natürlich Weitsprung – auf der Plane eines Lkws. Als er es endlich schaffte abzuspringen, war alles anders: Er befand sich im steinernen und lauten Berlin-Hellersdorf, mitten auf dem Alice-Salomon-Platz.
Plötzlich staunte er: Zwischen all den hohen Gebäuden, zwischen dem Rathaus und der Alice Salomon Hochschule Berlin stand ein grüner Pavillon – das „Klassenzimmer der Zukunft“, ein außergewöhnlicher Ausstellungs-, Lern-, und Begegnungsort. Robin hüpfte schnell dorthin und fand als seinen neuen Lebensraum die Beete des „Community Greenhouse“, die gerade Teil der aktuellen Ausstellung „Produktive Region“ sind.
Eine kleine Oase
Der riesige quietschgrüne Grashüpfer, der sich zwischen die Nutzpflanzen und Tomatenhängeampeln des Prinzessinnengarten Kollektivs Berlin und der AG Hochbeete ins „Klassenzimmer der Zukunft“ verirrte, ist nicht erfunden, es gab ihn wirklich. Umso erstaunlicher, dass der Provinzler mitten im urbanen Raum eine kleine Oase fand, wo man sich Themen einer grünen und lebenswerten Zukunft widmet.
„Hier lebte auch mal zwei Tage lang eine Möwe“, sagt Adam Page mit einem hörbaren britischen Akzent. „Taube“, korrigiert ihn Eva Hertzsch sanft lächelnd. Sie sind ein Künstlerpaar und beide Mitglieder der neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (nGbK), der der Pavillon gehört und die ihn in Kooperation mit der Alice Salomon Hochschule betreibt.
Dana Giesecke ist die wissenschaftliche Leiterin der Stiftung FUTURZWEI. Sie studierte Soziologie mit kultursoziologischem Schwerpunkt, Kunstgeschichte und Kommunikationswissenschaft an der Technischen Universität Dresden und Wissenschaftskommunikation und -marketing an der Technischen Universität Berlin. Regelmäßig begleitet sie für taz FUTURZWEI "Changemaker" in der gleichnamigen Rubrik.
Page und Hertzsch kann man als die derzeit zentralen Akteur*innen des „Klassenzimmers der Zukunft“ bezeichnen, denn ihnen obliegt als Künstler*innen und Kurator*innen maßgeblich die Konzeption, Organisation, Gestaltung sowie Durchführung des Projekts seit seiner Aufstellung 2024 im Bezirk. Doch eigentlich soll der nGbK-Pavillon ein Werk ohne Autor sein.
„Wir denken in gesellschaftlichen Kollektiven. Das war für uns eine Lernkurve, denn es ist das Gegenteil von dem, was wir in der Kunsthochschule beigebracht bekommen haben und was im Kunstbetrieb üblich ist“, sagt Eva Hertzsch. „Community Art ist für viele in der Kunstwelt ein Schimpfwort“, ergänzt Page und beide tauschen bestätigende Blicke aus.
Dennoch war die Staatliche Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe, an der beide Malerei studierten, für einiges gut. Zum einen haben Page und Hertzsch sich dort kennen und lieben gelernt, und zum anderen können sie das dort erlernte künstlerische Handwerk heute noch gut gebrauchen.
Page zieht sich gern in sein Atelier zurück und fertigt dort akribisch detailgenaue Zeichnungen an, die im Pavillon gebraucht werden. „Zeichnungen setzen wir als Kommunikationsmittel ein. Dann sagen die Hellersdorfer*innen: ‚Oh! Da steckt viel Arbeit und Können drin.‘ Das wird hier wertgeschätzt. Diese Form der intensiven Aufmerksamkeit, Widmung und Zuneigung braucht es hier.“
Page und Hertzsch interessieren sich aufrichtig für den Ort Marzahn-Hellersdorf und seine Bewohner*innen. Zu lange Zeit hätte sich niemand um die Menschen hier in der Peripherie gekümmert, niemand hätte gefragt, niemand zugehört.
Zuerst sei es nach 1989 still geworden, dann lauter und mit 29,5 Prozent AfD-Wähler*innen bei der letzten Bundestagswahl beängstigend krawallig. Page zeigt, wie zur Bestätigung des eben Gesagten, auf das Buch Lütten Klein des Soziologen Steffen Mau, das neben vielen Flyern, Broschüren und Prospekten auf dem Tisch im Pavillon liegt.
Klassenzimmer der Zukunft
Gerade findet die zweite Ausstellung des Jahresprogramms statt: „Produktive Region.“ Dabei wird eine neue Region zwischen Kreuzberg und Ostbrandenburg erdacht und somit verschiebt sich Marzahn-Hellersdorf, das sich heute am Rand befindet, mitten ins Zentrum.
Ein solches Szenario hätte, zum Beispiel, Auswirkungen auf Produktivität, Mobilität, sogar auf Mentalität und Biografien. Der Pavillon wurde bestückt mit Arbeiten und Installationen von Künstler*innen, vom Anwohner*innenbeirat und der Medienwerkstatt der Alice Salomon Hochschule. Und es ist wirklich erstaunlich, was ein einziger Raum, sofern er ein atmosphärisch guter Raum ist, alles in sich aufnehmen kann.
Das „Klassenzimmer der Zukunft“ besteht aus modularen und transportablen Elementen. Und das sind nicht wenige, wie man es einer gezeichneten Bauanleitung von Page und Hertzsch entnehmen kann. Es gibt Stahlteile des Tragwerks und Fassadenteile aus Glasfaser-Kunststoff, die im einzigen Innenraum Nischen bilden.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°34: Zahlen des Grauens
Die weltweiten Ausgaben für Rüstung betragen 2700 Milliarden Dollar im Jahr, ein 270stel davon wird weltweit gegen Hunger investiert. Wir präsentieren Zahlen des Grauens und plädieren gerade deshalb für Orientierung an Fakten statt an Talkshow-Aufregern.
Mit: Matthias Brandt, Dana Giesecke, Maja Göpel, Wolf Lotter, Armin Nassehi, Sönke Neitzel, Katja Salamo und Harald Welzer.
Beispiel einer gescheiterten Stadtentwicklung
Ursprünglich hat 1971 der Architekt Heinz Scheid (ABB Architekten) den Pavillon als Repräsentanz der Dresdner Bank auf dem Frankfurter Messegelände entworfen. Dort stand er bis 1983. Danach wurde er vierzig Jahre von einem hessischen Reitverein als Vereinshaus genutzt. Seitdem ist er nicht mehr im originalen Zustand, beispielsweise gab es früher eine Drehtür und ein Flachdach.
Nichtsdestotrotz erwarb die nGbk den Pavillon auf ebay und transportierte ihn auf zwei Tiefladern nach Marzahn-Hellersdorf (eine Parallele zum Grashüpfer Robin, der auch auf einem Lkw anreiste) und direkt auf eine Brachfläche. Dort wurde das einstige Bankhäuschen von nGbK-Mitgliedern zum „Klassenzimmer der Zukunft“ in einen nachhaltigen Bildungsraum umgewidmet und wiederbelebt.
Doch nach ein paar Monaten musste der Pavillon dort einem Schulneubau weichen und wieder abgebaut und verladen werden. „Das ist jedes Mal wie eine Prozession“, lacht Hertzsch.
Ein Ort für Offenheit, Zusammenarbeit und Kreativität
Nach einer Winterpause ist der Pavillon im Februar 2025 nun auf dem Alice-Salomon-Platz in einer Kulisse von traurig-nüchternen Fassaden der 1990er-Jahre gelandet. Der Platz gilt als Beispiel einer gescheiterten Stadtentwicklung: Die Fläche ist voll versiegelt, Beton und Stein dominieren, Straßen und Schienen zerschneiden den Stadtraum, es fehlt an Stadtgrün, die Aufenthaltsqualität tendiert gen null.
„Das ist ein großer Klops“, lacht Adam Page und weiß genau, dass das „Klassenzimmer der Zukunft“ in seiner Materialität und mit seiner Ufo-Anmutung als Fremdkörper erscheinen muss. „Viele sagen, er sei ein hässliches Entlein“, sagt Page, „oder: Geht ja gar nicht, so ein unsaniertes Ding!“
Doch der Pavillon ist keine stille, in sich geschlossene Skulptur im öffentlichen Raum; er trägt Inhalte in den Stadtbezirk, die Offenheit, Zusammenarbeit und Kreativität fördern sollen. „Auf diesem zentralen Platz kann man wirklich einen kulturellen Beitrag leisten, weil hier sonst fast nur Kommerz geboten wird“, sagt Hertzsch. Und Page ergänzt: „Alle aus der Kulturszene finden es toll, doch bleiben will hier keiner.“
Griesbrei im Zwischenraum
Keine*r will sich hier für längere Zeit niederlassen. Niemand zeigt solche Beharrlichkeit, schon gar nicht, wenn es auch mal um soziale Konflikte geht. Page und Hertzsch sind beide davon überzeugt, dass der Prozess und seine Folgen das Wichtigste an ihrer gemeinsamen künstlerischen Praxis sind.
Solche von ihnen initiierten und kuratierten Folgen können Workshops, Veranstaltungen, Ausstellungen oder andere kulturelle Aktivitäten sein, wie das Einbeziehen von Bürger*innen über einen offenen Beirat oder jüngst eine Schulgarten-Show mit dem Kochen von Griesbrei aus einer Gulaschkanone im Rahmen des Hochschulprojekts „Zwischenräume“.
Gerade betritt eine Frau das „Klassenzimmer der Zukunft“, um die aktuelle Ausstellung zu besuchen. „Hallo Conny!“, ruft Page und verwickelt sie sofort in ein Gespräch.
🐾 Lesen Sie weiter: Die neue Ausgabe unseres Magazins taz FUTURZWEI N°34 mit dem Titelthema „Zahlen des Grauens“ gibt es jetzt im taz Shop.