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taz FUTURZWEI

Changemaker für Carearbeit Schule des Träumens

Nach der Geburt ihres zweiten Kindes fragte sich die Künstlerin Rebecca Raue, was sie eigentlich noch vom Leben wolle. Dann gründete sie die Organisation Ephra, die Kinder mit Kunst verbindet.

Raue sieht Ephra als eine Art Batterieaufladestation für das starre und überforderte Schulsystem Foto: Unsplash | Maureen Sgro

Es ist ein Freitag im Spätherbst. Das internationale Publikum der Berlin Art Week ist wieder abgedüst. Rebecca Raue (48), Künstlerin und Kuratorin, steht im neuen Zuhause der gemeinnützigen Organisation Ephra in Berlin-Kreuzberg und organisiert den Abbau der Pop-up-Ausstellung On Connection von 18 zeitgenössischen, künstlerischen Positionen, die Teil der Berlin Art Week waren.

Den stärksten Auftritt hatten in dieser Ausstellung nicht die Neuentdeckungen des Kunstmarkts, auch nicht die Prominenz der Szene, sondern Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren, die den Werken und den Kunstschaffenden begegneten.

Die Künstlerin Stella Geppert lud beispielsweise dazu ein, über miteinander verbundene Bleistifte in einen zeichnerischen Dialog zu treten und dabei die Erfahrung von Führen oder Geführtwerden zu machen; von Kontrolle oder Kontrollverlust. Bei den Köch*innen Max Frey und Sofia Tachias konnten Kids Landschaften auf Foccaciateig auftürmen, um danach die eigenen Werke an einer langen Tafel gemeinsam zu vertilgen.

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Krasser Kraftakt

Jetzt ist nicht nur alles aufgefuttert, auch sind die meisten Werke abgebaut. Einige wenige warten noch auf ihren Transport. Doch wie befördert man einen typisch rumänischen, aber sich bewegenden Heuhaufen von Anca Munteanu Rimnic quer durch Berlin? Und wie bringt man einen Schmetterling raus aus der Stadt und in Sicherheit, der sich am riesigen, roten Sonnenschirm von Katharina Lackner niedergelassen hat?

Och, das seien doch keine schwierigen Aufgaben, sagt Raue lachend und triggert damit ihren hartnäckigen Husten. Raue ist nicht nur erkältet, sie ist auch erschöpft.

Große Herausforderungen liegen hinter ihr: Eben erst mietete sie das über zwei Jahre leer stehende und marode Gebäude in der Köpenicker Straße 178–180 zur Zwischennutzung. In nur eineinhalb Monaten entlüftete sie das Gebäude, reinigte die schmutzigen Fenster, machte die Treppen begehbar und die großzügigen Räume wieder nutzbar. Parallel kuratierte sie die aktuelle Ausstellung und plante Workshops für Kinder und Jugendliche.

„Das war alles ein krasser Kraftakt“, sagt sie. Aber es habe sich gelohnt: Das Gebäude mache zwar immer noch nicht den allerfeinsten Eindruck, aber die Tristesse sei verschwunden und das Haus atme wieder. Nun ist dieses Haus mehr als nur ein Haus: Es ist das Ephra-Haus, ein neuer Begegnungsort von Kindern mit Künstler*innen mitten in Berlin.

Dabei geht es nicht darum, die künftige Generation an den Kunstmarkt heranzuführen, damit sie später Bilder kaufen oder sammeln. „Ephra wendet sich an Grundschüler*innen aus sogenannten sozial benachteiligten Schulen, die bisher kaum oder noch gar nicht mit Kunst in Berührung gekommen sind“, sagt Raue.

„Der Bedarf ist extrem groß. Die Kinder sind bei schlechter psychischer Gesundheit, die Lehrkräfte überlastet. Deswegen sehe ich Ephra als eine Art Batterieaufladestation für das starre und überforderte Schulsystem.“

Geleitet vom Interesse am anderen

Mit Kunstpädagogik, Anleitungskultur oder der Frage „Was will uns der Künstler damit sagen?“ hat das nichts zu tun. Ebenso wenig mit herkömmlichen Formaten der Kunstvermittlung. Hier lernt man auch keine Regeln für einen guten und richtigen Umgang mit Kunst, erfährt keine Kunstmarkt-Weisheiten. Aha, dann also freies Malen und so Rumbasteln für Kreativität à la Waldorfpädagogik? Nein, hier soll mehr gefördert werden: das Miteinandersprechen, das einander Zuhören, das Interesse am anderen.

„In der Schule gibt es keine offenen Räume für die Gedanken- und Fantasiewelt und es bleibt kaum Platz für Herzlichkeit und Zwischenmenschlichkeit“, sagt Raue, die als Kind nicht gern zur Schule ging, „und schon gar nicht zum Träumen oder utopischen Denken.“

Rebecca Raue steht jetzt in der offenen Raumatmosphäre des Erdgeschosses. Wandmalereien, auf denen sich Farben und Formen mit gezeichneten Worten verweben, und die von ihr selbst stammen, laden ein, den Blick darauf spazieren gehen zu lassen, sich eigene Gedanken zu machen oder Fantasie zu erlauben.

Das blaue Baumwollkleid, das Raue trägt, fängt satt das einfallende Sonnenlicht ein, das durch die Fenster dringt. Auch ihr blondes, langes Haar wird angestrahlt. Sie lehnt am Empfangstresen aus Multiplex-Holz und beginnt die über zwölf Jahre lange Geschichte von Ephra zu erzählen; von der Gründung, über Zwischenstationen, von Ausstellungen, wie Gedanken spielen Verstecken im Haus Kunst Mitte im vergangenen Jahr, oder von Schwierigkeiten in Sachen Finanzierung.

Schulsystem für Demokratie

Für Raue, die an der Universität der Künste in Berlin studierte und dann Meisterschülerin der kürzlich verstorbenen Rebecca Horn war, ist Ephra ein künstlerisches Langzeit-Projekt – ihr Projekt.

„Denn ich mach das ja alles auch für mich. Kurz nach der Geburt meines zweiten Kindes fragte ich mich, wie es wohl sei, alt zu werden, und was ich vom Leben noch erwarten kann. Als Künstlerin arbeiten, eine Ausstellung im MoMA, viele hochpreisige Verkäufe? Nope. Einfach nein. Der Kunstraum kann nämlich, wenn er nicht belebt wird, ein sehr einsamer Raum sein“, sagt sie. Am Ende des Nachdenkens kam heraus, dass Raue gesellschafts- und gemeinschaftsorientiert arbeiten wollte, Beziehungen erforschen und abbilden sowie neue Begegnungsräume eröffnen.

Für Raue ist Kunst hauptsächlich ein äußerer Anlass, miteinander in Verbindung zu treten und ins Gespräch zu kommen, um herauszufinden, wer man ist und wer man einmal sein möchte. Auch kollektiv. Sie zitiert ein Mädchen aus der Berliner Grundschule an der Bäke, das sagte: „Bevor ich bei Ephra war, dachte ich, dass die Welt nichts mit mir zu tun habe, jetzt weiß ich, dass die Welt sehr viel mit mir zu tun hat.“ Für Raue ist es untragbar, dass so vieles im Schulsystem schiefläuft und dass Kinder oft emotional allein gelassen und sich selbst überlassen werden: „Das können wir uns als demokratische Gesellschaft nicht leisten, in ein paar Jahren sind die Kids wahlberechtigt.“

Carearbeit für eine entfremdete Gesellschaft

In diese große Lücke kann nach Raues Ansicht die Kunstwelt springen, denn die habe das, was anderswo fehle, im Überfluss. Bei Ephra-unterwegs werden über den Zeitraum von einem halben Jahr verschiedene in Berlin lebende Künstler*innen in ihren Ateliers besucht. Die Gruppengröße sei auf zwölf beschränkt worden, seitdem bei einem ersten Besuch gleich eine Horde Kinder in ein Bild gefallen wäre.

In über siebzig Ateliers von Künstler*innen waren die Ephra-Kinder bisher zu Gast. Oft sei das für die Künstler*innen selbst erhellend und enorm fruchtbar, sagt Raue, denn derart unvoreingenommene Fragen und Blicke bekäme man als renommierte*r Künstler*in eher selten. Mit Ólafur Elíasson, Lena von Goedeke, Sarah Illenberger, Karin Sander oder Tomás Saraceno haben die Kinder schon gesprochen. Beispielsweise ist Karin Sander bis heute von den großen Fragen der zwölf kleinen Journalist*innen beeindruckt, die ihr Atelier ruck-zuck zu einem Aufnahmestudio umwandelten.

Bei Ephra-Zuhause kommen hingegen die Künstler*innen zu Ephra. Über 30 Projekte hat Ephra bereits realisiert, über 340 Workshops durchgeführt und mit 62 Schulen kooperiert. „Gerade kam eine Zusage des Berliner Senats für ein neues Projekt, das sich gegen Antisemitismus wendet“, sagt Raue und klingt dabei sehr erfreut.

Bei der Durchführung von Projekten und beim Schreiben von Anträgen wird Raue von Malu Blume, Laura Nitsch, Alexa von Senger und Amelie Bender unterstützt. Zudem halfen im letzten Jahr die beiden Praktikantinnen Agnes Ehlich und Amelie Gottsmann. Alles Frauen.

„Was wir machen, zählt gesellschaftlich sozusagen zur ‚Carearbeit’“, sagt Raue und zeigt Anführungszeichen in die Luft. Lachend fügt sie hinzu: „Und ganz ehrlich: Hier sind auch schon Männer aufgetaucht, bei denen ich dachte, sie machen das gut. Leider wurde es meist schnell anstrengend. Ich brauche Leute, mit denen ich gut arbeiten kann.“