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CannesCannesFanatikern eins mitgegeben

■ Harte Themen weich behandelt: Filme von Verheyde und Chahine

Ein ruhiges Zimmer ist das, in dem ich untergebracht bin. Ordentlich und sauber, mit einer Terasse zum Meer hin. Aber jeden abend, wenn ich nach Hause komme und das Licht in der Küche anmache, sausen ein Dutzend Kakerlaken in Panik durch das Abwaschbecken. Von Ekel geschüttelt, spüle ich sie jedesmal erbarmungslos den Abfluß runter. Aber am nächsten Abend sind sie wieder da. Es sieht aus, als seien es immer dieselben. Die zwei fettesten Viecher habe ich Peter und Paul genannt. Gestern habe ich zum erstenmal heißes Wasser genommen.

„Immer wenn ich sage, daß ich ein Fotograf bin, habe ich das Gefühl zu lügen“, sagt Loic in Sylvie Verheydes Film „Un Frère“ (Quinzaine). Woher weiß man auch, ob man irgend etwas ist? Wenn die Freunde es sagen? Wenn man den ersten Erfolg hat? Loic könnte genausogut sagen: „Ich bin ein Arbeitsloser, der gern fotografiert.“ Eine erste Ausstellung seiner Fotos steht bevor. Es gibt die alten Freunde wie Tony, den Junkie, und die neuen – wichtige Personen, die bei teuren Magazinen arbeiten. Loic manövriert so hektisch hin und her, daß man manchmal glaubt, den Kameramann keuchen zu hören: zwischen Partys, auf denen die wichtigen Leute verkehren, der elterlichen Wohnung, den Cafés, in denen er sich mit Tony trifft. Obwohl er sein Leben lang mit Tony befreundet war, hat Loic Angst vor ihm. Tony wird nie irgendeinen Erfolg haben. Aber was hat Loic mit den Erfolgreichen zu schaffen? Er kennt sie nicht, sie sind ihm fremd. Wenn seine Ausstellung kein Erfolg wird, werden sie ihn fallenlassen. Die einzige feste Größe in Loics Leben ist seine kleine Schwester, die er eifersüchtig behütet. Sophie ist sechzehn und zum erstenmal verliebt. Früher, „als wir nie zusammen geredet haben“, hat sie Loic bewundert. Aber jetzt verstört sie seine Unsicherheit.

Er hat auch plötzlich so eine komische Art, sich an sie zu drängen. Aber „Un Frère“ ist kein Film über Inzest oder ein anderes hartes Thema. Er beschreibt einen Schwebezustand. Er erzählt von der Zeit nach der Pubertät, wenn sich entscheidet, was aus einem werden soll. Und er zeigt, daß diese Zeit kein bißchen weniger verwirrend ist als die Pubertät selbst. Es hört nie auf.

Youssef Chahines letzter Film, „L'Emigré“, wurde in Ägypten verboten. Begründung: es sei nicht erlaubt, einen Propheten in einem Film zu zeigen. Chahine selbst wurde bedroht. Sein neuer Film, „Le Destin“ (Wettbewerb), ist eine Antwort auf den religiösen Fanatismus. Er spielt im 12. Jahrhundert, als der arabische Philosoph Avarroe im arabisch besetzten Andalusien lehrte. Die Europäer hatte das Erbe der Antike längst vergessen. Es waren arabische Philosophen wie Avarroe, die Aristoteles' Bücher bewahrten, bis die mit Glaubenskriegen beschäftigten Europäer wieder einigermaßen zivilisiert waren. Avarroe war ein großer Gelehrter, er predigte einen toleranten Islam – bis seine Bücher verbrannt wurden.

Chahine nutzt den Film nach Kräften, heutigen Fanatikern eins mitzugeben.

Verpackt ist das ganze wie ein Mantel-und-Degen-Stück von Alexandre Dumas: großartige Landschaft, schöne Häuser, herrlich bemalte Kacheln, singende Zigeuner, glutäugige Jünglinge und Mädchen. Ein Plädoyer für Toleranz, das den Zuschauer wie ein buntes Märchen einlullt. Parfümwolken schweben von der Leinwand auf mich herab. Oder sind das die beiden Damen neben mir? Anja Seeliger

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