CHAMPAGNER NUR MORGENS : Nachts im Wedding
Wir sehen aus, wie wir aussehen. Unauffällig, dachte ich, normal, aber was normal ist, entscheiden immer noch die anderen. Also brüllt man uns an der U-Bahn-Station Leopoldplatz hinterher: Ah, die Doktoren! Worauf wir nicht reagieren. Was ihn noch mehr anstachelt. Ihr!, brüllt er weiter, ihr wisst doch alles nur aus Büchern! Das allerdings ist eine treffsichere Beschimpfung in Richtung zweier Schriftstellerinnen, das muss man ihm lassen. Bloß hat er sich hier die Falschen ausgesucht. Wir bleiben stehen, drehen uns langsam und synchron um. Und du, woher weißt du alles? Nachtschicht, sagt er, Sicherheitsschutz, und ich sag euch eines: Die Nacht, die Nacht ist gefährlich! Er stützt sich auf seinen Rollator, unter der Jacke sehen wir, wie sich sein Bizeps anspannt. Muskeln verschwinden offenbar nicht ganz so schnell wie Erinnerungen, denn mehr fällt ihm nicht ein. Immerhin ein nettes Gesprächsangebot der Berliner Art. Die feine Unterscheidung zwischen Kompliment und Beleidigung war mir noch nie klar.
Wir ziehen weiter in den Magendoktor. Hier ist die Welt in Ordnung, egal wer kommt, hier ist die Nacht exakt so gefährlich, wie man sich das wünscht. Hier kann dir alles passieren, aber niemand tut dir weh. Wir trinken Weizen und Kirschlikör und denken nur kurz darüber nach, beides zusammenzuschütten. Aus der Musicbox hören wir Falco und Johnny Cash, wir hören nur Tote. Eine Runde mit Hund kommt dazu, ruft zum Tresen: Ulla! ’ne Flasche Schampus! Dann grölendes Gelächter einschließlich Schenkelklopfen.
Wollt ihr auch? Nee, sagen wir, das ist doch keine Zeit für Champagner. Morgens, ja, morgens ist der gut. Die Runde wird still, der Hund starrt. Ehrlich? Ihr habt schon mal Champagner getrunken? Na klar, und heben die Weizengläser, ihr etwa nicht? Nee, nie. Nee. Ulla! Mach uns mal einen richtig schönen, guten Futschi! LUCY FRICKE