Bundestag sagt Treffen mit Behinderten ab: Risiko Rollstuhl
Unvermittelt wurde eine Diskussionsveranstaltung im Bundestag wegen Sicherheitsbedenken abgesagt. Peinlich, denn es hatte um "Barrieren in allen Lebensbereichen" gehen sollen.
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BERLIN taz | Behindert wird man nicht geboren. Behindert wird man. Durch "die einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die Menschen mit Behinderung an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern". So steht es in der Präambel zur UN-Behindertenrechtskonvention.
Der Mensch ist nicht behindert, seine Umgebung ist behindernd. Nicht Geist oder Körper sind ein Handicap, sondern die strukturellen Bremsklötze, die ihn daran hindern, seine Rechte zu erstreiten und sich frei und selbstbestimmt zu bewegen.
Die deutsche Volksvertretung ist behindernd. Dreihundert Menschen waren für den 2. und 3. Dezember ins Parlament geladen, um mit Politikern über die Umsetzung der Behindertenkonvention zu diskutieren. Die besagt schließlich, "dass Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben sollen, aktiv an Entscheidungsprozessen über politische Konzepte und über Programme mitzuwirken". Aber der Bundestag hält sich nicht an das Statut, denn dreihundert Menschen erhielten am Mittwoch eine plötzliche und unerwartete Absage.
Die Organisatoren hatten über alle Vorfreude wohl nicht bedacht, dass die Menschen, deren Belange vorangetrieben werden sollten, auch tatsächlich erscheinen könnten. Anders erschließt sich nicht, warum sie die Veranstaltung kurzerhand abbliesen, als sie feststellten, dass unter den angemeldeten Gästen auch 100 Rollstuhlfahrer sein würden. Ganz plötzlich, so scheint es, wurde man sich der sicherheits- und brandschutztechnischen Hindernisse bewusst.
Keine Kompromisse
Diese Begründung ist besonders zynisch, hatte man in verschiedenen Gesprächsrunden doch ein "gemeinsames Signal für die Bereitschaft zur Inklusion und zur Überwindung von Barrieren in allen Lebensbereichen" aussenden wollen.
Außerdem drängt sich die Frage auf, warum man nicht umdisponiert und auf einen barrierefreien Veranstaltungsort zurückgegriffen hat. Aus dem Büro von Ilja Seifert, behindertenpolitischer Sprecher der Linksfraktion und Mitunterzeichner der Absage, war diesbezüglich zu vernehmen, dass "der Dialog von Menschen mit Behinderungen und Politik im Bundestag und nicht anderswo" zentrales Element des Gesamtkonzepts gewesen sei.
Zwar habe Seifert die Auffassung vertreten, dass die Veranstaltung "mit Einschränkungen und Kompromissen" durchführbar gewesen wäre. Er sei mit dieser Ansicht aber in der Minderheit geblieben.
So muss sich der Bundestag, mit seinen großen und weitläufigen Gebäuden fragen, ob er auch in Zukunft Bürger zu Behinderten machen will. Oder ob er die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in Deutschland auch architektonisch vorantreiben möchte.
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