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Bundesanwalt verhöhnt Boock–Verteidiger

■ Bundesanwalt wirft Rechtsanwalt Hannover „fehlende Distanz zum Nationalsozialismus“ vor / Verteidiger fordern Haftstrafe von zehn Jahren bei sofortiger Haftentlassung auf Bewährung / Boock–Schlußwort zu den Motiven seines RAF–Ausstiegs

Aus Stammheim D. Willier

Fast den ganzen Tag lang hatte Bundesanwalt Uwe Schulz am Dienstag im Stammheimer Prozeß gegen den RAF–Aussteiger Peter Jürgen Boock die Schlußplädoyers von dessen vier Verteidigern abwarten müssen, dann durfte auch er noch ein letztes Mal reden. „Möglicherweise“, so kommentierte der Bundesanwalt dann das vorangegangene Plädoyer von Boocks Wahlverteidiger Heinrich Hannover, „möglicherweise fehlt Rechtsanwalt Hannover noch immer die innere Distanz zum Nationalsozialismus.“ Das hatte es selbst in Stammheim bisher noch nicht gegeben. Rechtsanwalt Hannover, der seit mehr als dreißig Jahren für sein entschlossenes Eintreten für die Opfer des Faschismus bekannt ist, verließ unter Protest den Verhandlungsraum. Lautstarke Protestrufe kamen von den ausnahmsweise gut besetzten Zuhörerbänken. Herbert Schmid, Vorsitzender des 5. Strafsenats am Oberlandesge richt Stuttgart–Stammheim, rügte die Entgleisung. Doch Bundesanwalt Schulz war nicht mehr zu bremsen. Süffisant wie in seinem eigenen Plädoyer wiederholte der Bundesanwalt, was seiner Ansicht nach für den Angeklagten spreche: Boock sei erheblich vermindert zurechnungsfähig, er sei nicht vorbestraft, er habe nicht selbst Menschen ermordet, sondern den Tod des Bankiers Jürgen Ponto, des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und seiner Begleiter nur mit anderen zusammen als herausragendes Mitglied der RAF so gewollt, und außerdem lägen die Taten schon zehn Jahre zurück. Zudem habe er mit seinen Angaben geholfen, zwei seiner früheren „Kampfgefährten zu überführen“ und mit der Bestätigung eines Interviews zwischen dem ehemaligen RAF– Mitglied Angelika Speitel und der Hamburger Zeitschrift Stern deren Beteiligung an der „Schleyer– Aktion“ offenbart. Boocks Angaben, so Schulz weiter, könnten noch zur Verurteilung „weiterer Bandenmitglieder“ herhalten. Die Enttäuschung des Bundesanwalts über den RAF–Aussteiger Boock, der eben gerade nicht zum Kronzeugen und Verräter wurde, hätte kaum offensichtlicher sein können. Dreimal lebenslänglich und 15 Jahre Haft hatte die Bundesanwaltschaft gefordert. Die Verteidigung hatte dagegen höchstens zehn Jahre bei sofortiger Haftentlassung beantragt. Fortsetzung auf Seite 2 Kommentar auf Seite 4 In seinem Schlußwort befaßte sich Peter Jürgen Boock noch einmal mit den Motiven für seinen Ausstieg aus der RAF. Als Exilant im Jemen, so Boock, seien ihm die politischen Fehler der RAF klargeworden, er sei nach Europa zurückgekommen, um seine eigene Geschichte zu verarbeiten und habe diesen Entschluß auch nach fast sechsjähriger Untersuchungshaft und zwei Strafprozessen nicht bereut. Er habe andere davor warnen wollen, einen Weg wie seinen einzuschlagen, die Politik der RAF halte er im Nachhinein für politisch und moralisch falsch. Vom Urteil der Richter des 5.Strafsenats am OLG Stuttgart erhofft sich Boock Freispruch im Fall Ponto und dem von ihm selbst sabotierten Raketenwerferanschlag auf die Karlsruher Bundesanwaltschaft. Das Fahrzeug zur Entführung von Hanns Martin Schleyer habe er zwar hergerichtet, sei aber weder an der Entführung– noch der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten und seiner vier Begleiter beteiligt gewesen. Der Bundesanwaltschaft warf Boock Häme und Verdrehung und unversöhnliche Rache gegen ihn vor, weil er weder im ersten noch im zweiten Prozess als Kronzeuge gegen seine ehemaligen Genossen aufgetreten war. Die beabsichtigte Einführung eines Kronzeugen macht es nach Boocks Ansicht aussteigewilligen Mitgliedern der RAF zukünftig noch schwieriger. Bedingung für einen Ausstieg sei die Möglichkeit für eine „langsame innere Distanzierung“, Geldangebote und die Erwartung von Straffreiheit dagegen stärkten den Zusammenhalt der RAF. Mit einem Kronzeugengesetz könne man aus „Morden aussteigen, wenn man bei der Bundesanwaltschaft einstiege“. Boock sieht sich in der Schuld gegenüber anderen ehemaligen Mitgliedern der RAF wie Gerd Schneider, Stephan Wisniewski und einer Frau, die verhaftet wurden, als sie Medikamente für seine Drogensucht beschaffen wollten und hofft auf ein Urteil mit „Lebensperspektive“ auch als Signal für Andere. Boocks Verteidiger hatten zuvor in ihren Plädoyers die Vertreter der Bundesanwaltschaft zum Teil heftig kritisiert. Politische Einsichten zum Umgang mit „Aussteigern“ seien aus dem Haus des Generalbundesanwalts verbannt worden, die Chance faire Prozesse für Aussteiger zu führen sei vertan. Als Strafmaß halten die Verteidiger eine zehnjährige Haftstrafe mit sofortiger Haftentlassung zur Bewährung für angemessen, Boocks frühere Drogenabhängigkeit sei im Unterschied zu seiner Beteiligung an der ihm vorgeworfenen Mordbeteiligung durch die Hauptverhandlung erwiesen, und den versuchten Raketenwerferanschlag auf die Karlsruher Bundesanwaltschaft habe er aus eigenem Willen verhindert.

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