: Bulgariens Regierung gerät ins Wackeln
Staatschef Schelew versucht angesichts der Streiks und Demonstrationen eine Koalitionsregierung zustande zu bringen ■ Aus Sofia Roland Hofwiler
„Friede, Brot, Freiheit“, unter diesem Motto hatten sich Zehntausende von Anhängern der bulgarischen Opposition schon am Montag abend vor der Alexandár-Nevski-Kathedrale von Sofia zusammengefunden, um gegen die Regierung zu demonstrieren, die in ihren Augen immer noch ein neokommunistisches Regime darstellt. Seither demonstrieren und streiken die Altdissidenten und Gewerkschafter, Studenten und Arbeiter und sogar viele Bauern, die vom Lande hierher nach Sofia kamen. Selbst Angehörige der Sonderpolizei, der „Roten Baretts“, mischten sich friedlich unter die Massen. Das Meeting am Montag war der erste Höhepunkt des landesweit von der Gewerkschaft „Podkrepa“ ausgerufenen Generalstreiks, der auch am Dienstag und am Mittwoch unvermindert weiterging. 800.000 Streikende sollen es am Dienstag gewesen sein. Und als am Mittwoch die Adlerbrücke in Sofia von Studenten und Arbeitern besetzt wurde, war von einem Abbröckeln der Streikbewegung, wie es von Regierungsseite behauptet wurde, wahrlich nichts zu bemerken.
Die Oppositionellen wollen mit den Streiks und den Demonstrationen Ministerpräsident Lukanow unverzüglich zum Rücktritt zwingen. „Wir glauben deinem neuen Mantel nicht, Lukanow, wir Arbeiter, Bauern und Studenten fordern deinen Rücktritt“, hieß es in einem Flugblatt der Opposition. Doch für viele der Streikenden sind das zu große Worte. „Wir wissen einfach nicht, was werden soll,“ sagt einer der streikenden Busfahrer, deren Dienst nun von Armeeangehörigen ersetzt wird. Seit Wochen sind die Läden leer. Und angesichts des harten Winters sind Kälte und Hunger zu erwarten. „Wir brauchen nicht Worte, sondern Taten.“
Auch der Herausforderer und Führer der Opposition, Petár Beron, mußte am Montag feststellen, daß mit reinem Pathos nichts zu erreichen ist. Er beschuldigte Staatspräsident Schelju Schelev, der ja aus den Reihen der Opposition hervorgegangen ist, mit Regierungschef Andrej Lukanow gemeinsame Sache zu machen: „Den beiden Herren ist es egal, ob wir verhungern.“ Der Applaus blieb dünn. Und es tauchte Widerspruch auf. Eine Arzt aus dem Universitätsklinikum sah den Streik ins Leere laufen. „Der Machtkampf muß anders geführt werden, wir kommen nicht weit mit der Einteilung, hier die Bösen, hier der Überläufer Schelev, und dort die Guten, die mutigen Freiheitskämpfer.“ Das Land stehe vor Hunger und Massenelend, vor Stromsperren und Kälte, da müßten doch alle Parteien an einem Strang ziehen.
Diese Position scheint nun doch bei den Regierenden gehört zu werden. Als auf Anregung von Staatspräsident Schelju Schelew sich in der Nacht zum Dienstag die Führungen der regierenden Sozialistischen Partei und der Union Demokratischer Kräfte trafen, „waren das die konstruktivsten Konsultationen in den letzten Monaten“. So sagte es jedenfalls der stellvertretende Vorsitzende der Demokratischen Union, Dimitar Ludschew, am Dienstag in einem Rundfunkinterview. Als wichtigstes Ergebnis dieser Beratungen bezeichnete der stellvertretende Vorsitzende der Sozialisten, Tschawdar Kjuranow, die Übereinkunft, „eine Gruppe von Vertretern der verschiedenen politischen Kräfte zu bilden, die einen Entwurf für eine Vereinbarung ausarbeiten soll“.
Für die Sozialisten schwer zu schlucken wird der Verlust des Ministerpräsidentenamtes sein. Für die Oppositionellen aber ist es klar, daß nur ihnen dieser Posten zusteht, denn die öffentliche Meinung habe sich in den letzen Monaten stark zu ihren Gunsten verändert. Die Sozialisten pochen dagegen auf ihre Mehrheit von 210 der insgesamt 400 Sitze im Parlament und wollen von solcherart Meinungsdemokratie nichts wissen. Doch beide Seiten wissen auch, daß angesichts der Krise im Lande eine Lösung gefunden werden muß.
Draußen auf der Straße machen die Menschen weiter. Gesänge und Spottlieder gegen die „neokommunistische Regierung“, die man wie einen bösen Geist auszutreiben habe, beherrschen die Nacht. Gerüchte gehen um. Nach alter Geheimdienstmanier würden in manchen Orten Entlassungsbescheinigungen den Streikenden sogar per Telegrammboten ins Haus geliefert. Busfahrer und Paramilitärs seien in Sofia aneinandergeraten. Endlich aber gibt es Informationen aus dem Radio. Die Regierung hatte bis zuletzt versucht, den Rundfunk zu verpflichten, nicht zu berichten, um das „Land vor Chaos zu bewahren“. Die Meldung: In Sofia sind mehrere Schwerverletzte zu beklagen.
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