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Bürger fordern BeteiligungVom Wutbürger zum Mutbürger

Immer mehr Menschen wollen sich bei politischen Entscheidungen einmischen. Eine Stadtbahn in Mannheim, ein Pumpspeicherwerk in Atdorf: Bürger sagen, wie es geht.

Protest gegen das Pumpspeicherkraftwerk Atdorf. Bild: dpa

MANNHEIM/BAD SÄCKINGEN taz | Abend für Abend sitzt Bernhard John an seinem Schreibtisch und beugt sich über Stadtpläne. Wie könnte eine Stadtbahn optimal durch den Mannheimer Norden verlaufen, fragt sich der 66-Jährige mit kurzen grauen Haaren. Wie könnte der Bau der Bahn möglichst wenig Schaden anrichten und möglichst viele Freunde finden? Immer wieder aufs Neue sucht er die richtige Antwort.

Und wenn er glaubt, sie gefunden zu haben, präsentiert er sie den zuständigen Mitarbeitern im Mannheimer Rathaus. Dabei hatten die sich zusammen mit Ingenieuren längst ihre eigenen Gedanken gemacht. Doch ihr Vorschlag für die neue Stadtbahn hat die Bürger nicht zufriedengestellt, sondern gespalten. Es hagelte Leserbriefe, es gab einen Protestmarsch entlang der geplanten Trasse, und gemalte Bettlaken vor Fenstern forderten: "Keine Stadtbahn".

Deshalb hat sich John engagiert. Manch ein Politiker fürchtet sich womöglich vor jemandem wie John. Vor Menschen, die sich einmischen. Die den Volksvertretern nicht mehr alles einfach so abnehmen. John ist kein Wutbürger, der einfach nur sagt: So nicht! Er ist ein Mutbürger, der sich genau informiert und sagt: Bitte so!

Seit der Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 vor einem Jahr hochgekocht ist, ist Bürgerbeteiligung ein beliebtes Wort im Mund vieler Politiker. Vor allem die neue grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg hat es sich zu Amtsantritt groß auf die Fahnen geschrieben.

Bislang steht dabei im Fokus, wie sich die Politik und die Verwaltung verändern müssen. Die Basta-Politik soll der Vergangenheit angehören. Nun sollen die Politiker zuhören. Mit ihren Bürgern reden. Sie einbeziehen.

Doch Bürgerbeteiligung ist keine Einbahnstraße. Nicht nur die Politiker müssen umdenken, wenn sie eine ehrlich gemeinte Bürgerbeteiligung praktizieren wollen. Auch die Bürger sind jetzt gefragt.

Nur ein erster Schritt

Der Gang mit Trillerpfeife und Protestplakat auf die Straße ist ein wichtiger, aber nur der erste Schritt. Der zweite erfordert Zeit, intensive Auseinandersetzungen mit dem Thema - und auch die Bereitschaft, sich belehren zu lassen.

"Ich bin für ein Projekt, aber bitte nicht bei mir - dieser Grundsatz taugt nicht", sagt John. Er sitzt zusammen mit Gerhard Nießner auf der Terrasse eines Mannheimer Innenstadtcafés. Zusammen haben sie am Bürgerbeteiligungsverfahren zur Stadtbahn Nord teilgenommen.

Nießner war von Anfang an für die Stadtbahn, John eher skeptisch, aber insgesamt offen. Er war vor allem an der Auseinandersetzung und dem Prozess interessiert. "Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen. Deshalb fühle ich mich als Bürger der Stadt verantwortlich."

Mannheim gab ihm die Möglichkeit dafür - lange bevor der Streit um S 21 die Republik verändert hat. Im Februar 2009 lud die Stadt erstmals alle interessierten Bürger zu einem groß angelegten Bürgerdialog ein. Die Grundsatzentscheidung pro Stadtbahn war bereits im Gemeinderat gefallen.

Fachwissen erarbeiten

Doch das Planfeststellungsverfahren stand noch aus. Im Zuge des Bürgerdialogs wurden wiederum 28 Bürgervertreter mit verschiedenen Interessen ausgewählt, die sich über Monate in einem Forum zusammengesetzt haben.

Erst die kleine Gruppe habe die Möglichkeit zur Versachlichung gegeben, erklärt Christian Specht, Erster Bürgermeister der Stadt. Denn über die Wochen haben sich die Beteiligten ein enormes Fachwissen angeeignet und konnten so auch Annahmen, die hinter den Überlegungen der Ingenieure standen, besser verstehen.

"Am Ende sind die dabeigeblieben, die auch bereit waren, viel Zeit zu investieren und sich mit komplexen technischen Fragen auseinanderzusetzen", sagt Specht.

Die umfassende Beteiligung ging so weit, dass den Bürgervertretern ein Stadtplan und Stift hingelegt wurden, damit sie einfach mal selbst ihr Bus- und Stadtbahnnetz konstruieren konnten. Ein pädagogischer Kniff, der Wirkung zeigte.

Nicht umsetzbar

"Da mussten wir uns belehren lassen", sagt John. Für einen Vorschlag habe es in der Runde große Begeisterung gegeben, doch technisch, so mussten sie einsehen, war er wegen der angrenzenden Hofeinfahrten nicht umsetzbar.

Auch Volker Albiez musste sich anhören, dass sein Konzept nicht umsetzbar sei. Aber immerhin: Vor laufender Kamera, vor Managern und Landespolitikern hatte er eine Viertelstunde Zeit, seinen Ansatz vorzustellen. Dabei ging es um eine Alternative zum geplanten Pumpspeicherkraftwerk Atdorf.

Um künftig Energie speichern zu können, soll im Südschwarzwald eine riesige Betonwanne gebaut werden. Dafür müssten insgesamt etwa 150 Hektar Wald abgeholzt werden. Ob das der richtige Plan für die Energiewende ist, darüber streiten sich eine Bürgerinitiative mit der Schluchseewerk AG, Naturschützer mit Energieexperten, Lokalpolitiker mit Landes- und Bundespolitikern.

Ein runder Tisch in Bad Säckingen soll die Potenziale und Risiken klären und Alternativen prüfen, die im Raumordnungsverfahren gar nicht berücksichtigt wurden. Albiez hat sich "Nächte, Wochen, Monate" mit der Standortfrage beschäftigt, als Laie. Denn beruflich betreibt der Mann mit dunklem, krausen Haar und Schnäuzer ein Tanz- und Discostadl.

Vorschlag abgelehnt

Privat aber sorgt er sich als Einheimischer um die Bergquellen. Deshalb hat er sich von der Materie nicht abschrecken lassen. "Ich konnte nicht verstehen, warum man so vehement an einem Vorschlag festhält." Er hat sich teilweise Tipps bei Fachleuten in der Schweiz und Österreich geholt.

Auch wenn sein Vorschlag an diesem Tag in der Bewertung eines unabhängigen Gutachters durchfällt, hat Albiez viel Anerkennung bekommen. "Ich halte es für eine ziemlich beachtliche Leistung, als Bürger so eine ausgereifte Alternative auszuarbeiten", sagt die Moderatorin des runden Tisches, Michaele Hustedt.

Muss also künftig jeder solch eine Leistung erbringen, wenn Bürgerbeteiligung gelingen soll? Specht glaubt nicht. Er hat eine interessante Erfahrung gemacht, die gleichzeitig nicht viel Gutes über die Akzeptanz von Berufspolitikern aussagt.

Einige Änderungen erreicht

"Unseren 28 Bürgervertretern aus dem Forum wurde von der überwiegenden Mehrheit eine unheimliche Glaubwürdigkeit zugeschrieben - obwohl man die gar nicht näher kannte", sagt der Mannheimer Bürgermeister. "Aber die Leute haben gesagt: Das ist einer von uns."

Und die haben zumindest für die Stadtbahn einige Änderungen erreicht. Die Strecke wurde verkürzt, die Endhaltestelle verlegt, so dass ein Waldgrundstück erhalten bleiben konnte, es gibt mehr Barrierefreiheit und eine zusätzliche Haltestelle.

Nach dem anfänglich großen Groll gab es schließlich im laufenden Planfeststellungsverfahren nur noch rund 50 Einwendungen. Im Oktober sollen sie mündlich behandelt werden.

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10 Kommentare

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  • R
    rheinelbe

    Politischer Missbrauch

     

    Gerade die Grünen infiltrieren beständig Bürgerinitiativen, um sie für ihre eigenen Zwecke zu benutzen, also vor den grünen Karren zu spannen.

    Da sollten die Bürger sehr wachsam sein!

  • V
    VJP

    @Piraten: Wie sollte denn eine Volkabstimmungsfrage "bei Sarrazin", wie Sie es nennen, formuliert sein?

     

    Es ist bei Volksabstimmungen natürlich darauf zu achten, daß sie den Rahmen des Grundgesetzes einhalten.

  • HJ
    Harald Jochums

    Das mit dem Wut- zum Mutbürger hat die NRZ/Duisburg schon vor einigen Wochen in einem Interview mit mir betreffs unserer Initiative neuanfang-fuer-duisburg.de getitelt. Hatte ich unsererzeit so formuliert, weil Wut alleine nicht ausreicht und auch kontraproduktiv werden kann. Wir sind dabei, diesen (nicht unseren) OB DU (Sauerland) abzuwählen - und die Chancen stehen gut.- Eine Frage wird uns immer wieder zu Recht gestellt: Wie geht´s danach weiter? Daran arbeiten wir und ich persönlich kann als erstes Ergebnis für mich sagen: Die Parteien sind ein Auslaufmodell und sie wird es in ein paar Jahren so nicht mehr geben. Die sind sowas von fertig, wie es besser nicht mehr geht, wenn es auch für uns fatale Folgen haben wird. Die werden uns einen Scherbenhaufen hinterlassen, wir dürfen aber nicht den Fehler machen, die Scherben wieder mühsam zusammenzukitten, sondern sollten sie zu etwas Neuem zusammensetzen. Geht nich? Doch - wir haben nämlich Ideen, wir lassen uns Zeit und haben keine Ideologie - drei unschätzbare Dinge, die nicht nur der Mann braucht. -

    Venceremos

    Harald Jochums / u.a. Architekt für Ökologisches Bauen / DU-Rheinhausen

     

    P.S.: Wir können nix außa Hochdeutsch - Duisburg: Nur wir sind so

  • MB
    Michael Baleanu

    @Johnny Cynic

    Ja, das Volk, dass bisher seine Wut nur am Stammtisch äußerte, kommt langsam dahinter, dass diejenigen, denen sie ihre "Stimme" geben, mit falscher Zunge reden.

     

    In Berlin machen nicht die Politiker Politik, sondern die Lobbyisten.

     

    DAS erkennen die Menschen immer besser. Noch wirkt der Widerstand unbeholfen, aber es ist jedem in diesem Lande klar, dass jeder Häuslebauer über mehr Grips verfügt, als diejenigen, die es zugelassen haben, dass wir heute vor einem 2 Billionen hohen Schuldenberg stehen.

     

    Diese 2 Billionen kommen nicht von ungefähr. Sie sind das Ergebnis einer rabiaten Habgier vieler Lobbyisten.

     

    Es sind diese Habgierige, die vermeiden wollen, dass das Volk auf demokratischer Art und Weise entscheidet. Sie sind es, die den bundesweiten Volksentscheid verhindern.

     

    Hätten wir den, wäre es für uns längst Praxis gewesen, dass solche Projekte, die viel Sachverstand beanspruchen, in einer vernünftigen Art und Weise, abgewickelt werden und die Finanzierung auch sinnvoll und transparent geplant und durchgeführt wird.

     

    So müssen wir immer wieder feststellen, dass öffentliche Projekte zunächst mit einer Planung von - sagen wir - 1 Milliarde EUR starten und letztendlich bei 4 Milliarden enden. Da solche Projekte meistens in irgendwelchen Hinterzimmern geplant werden, braucht man sich nicht zu wundern, wenn Wutbürger auf die Strasse gehen.

     

    Wissen Sie, Abraham Lincoln hatte mal gesagt: „Man kann das ganze Volk eine Zeit lang täuschen und man kann ein Teil des Volkes die ganze Zeit täuschen, aber man kann nicht das ganze Volk die ganze Zeit täuschen."

     

    Zu welchem Teil des Volkes gehören Sie, Herr Cynic?

  • JC
    Johnny Cynic

    Da reiben sich "Enzo" und "vic" verwundert die Augen und müssen erkennen dass die "Wutbürger" oft nichts als ein Haufen hedonistischer Brüllaffen mit dem Sozialverhalten einer Küchenschabe sind.

  • UF
    Ulrich Frank

    Mutbürger sollten sich zu Beginn ihres Engagements einen sehr, sehr langen Atem zulegen. Und sich darauf einstellen, daß sie von den neuen Kräften, welche durch Sie an die Macht kommen, auf Raten verraten werden - wie jetzt die Mutbürger im Falle von Stuttgart 21 von der grün geführten Landesregierung mit dem Zurückruderer Kretschmann an der Spitze.

  • P
    Piraten

    Die Bürger im Land wollen z.B. auch bei Zuwanderung und Multikulti mitentscheiden. Das wollen dann die Grünen nicht. Atomkraft? Das wollte die CDU nicht. Kohlepfennig? Bitte ohne SPD. Hotelerbensteuererleichterung? Ohne FDP. Es gibt überall eine wirtschaftliche oder politische Lobby die gegen Demokratie bei ihrem Thema ist, weil sie da verlieren würde. Bei Bahnhöfen soll es erlaubt werden findet man in der taz. Bei Sarrazin nicht. Unser Land würde bei vielen Themen ganz anders aussehen wenn wir echte Demokratie hätten. Insgesammt besser. Das fürchtet man aber in allen Parteien, weil damit die Macht und damit verbundene privilegien weg wären. Die einzigen die glaubwürdig für mehr Demokratie eintreten sind die PIRATEN. Der Rest versteht unter Demokratie Recht zu bekommen.

  • B
    Basta

    Das Wort "basta" bedeutet doch, dass "es reicht". Warum wird dann dieser politische Jargon im Parlamentarismus verwendet, hat er doch seinen Ursprung aus der "Bewegung" ?-Und dann doch eher international, was das Wort ja klar ausdrückt,aber doch auf hier bezogen wiederum den Wutbürger mit meint.

  • V
    vic

    Es fällt auf, kaum sind Windräder, Stromtrassen, PV-Kollektoren, oder notwendige Infrastruktur für den Energiewandel im Spiel, gehen all jene auf die Barrikaden, die sonst das Maul nicht aufkriegen.

    Sie sagen:

    Ja schon, aber "Not in my backyard" (Nimby)

    Zu deutsch: "Nicht in meinem Hinterhof", auch das Sankt Florians Prinzip genannt...

  • E
    EnzoAduro

    In 90% der fälle geht es um das Durchboxen von lokalen Egoismen.

    "Ja ich wohne am Stadtrand Mitteleuropas größter Stadt, und fahre jeden Tag mit meinem Auto durch die Einfallstraßen rein - Aber was Flugzeuge in 500m über meinem Kopf? SKANDAL"

     

    "Ja ich bin für Ökostrom, aber ein Pumpspeicherkraftwerk das man nicht sieht? Und der Ganze Lärm beim bauen - SKANDAL"

     

    "Ja ich will das in Berlin Häuser gebaut werden, aber auf einem brachliegenden Industriegelände neben dem Mauerpark, wo dann der Mauerpark noch 3 mal so groß wird? SKANDAL"

     

    "Und bauen auf dem Flughafen Tempelhof, am Rand, wo ich vorher eh nie raufkonnte SKANDAL, mir wird was weggenommen"

     

    BALD: "Was Wolkenkratzer am Alex oder sonst wo? Ich könnte 5 Minuten am Tag verschattet werden SKANDAL"

     

    Diese Lokalen Egoismen mit Basisdemokratie zu verwechseln oder Sie gar mit dem Attribut "mutig" zu versehen ist lächerlich. Das ist nicht Mutig, das ist dass Durchsetzen von Einzelinteressen gegen die Interesse der Gesamtbevölkerung. Das ist nicht ein Mehr an Demokratie, sondern ein Weniger. Am Ende steigen die Mieten noch stärker weil niemand ein Haus bauen kann weil überall die Leute dagegen vorgehen.

     

    So konnte auch der Mythos: "Wir müssen gegen Neubau vorgehen wenn wir wollen das die Mieten nicht steigen" entstehen. Grässlich.