■ Bündnisgrüne und Sozialstaat: Plädoyer gegen eine liberale, bloß ökologisch angestrichene Wirtschaftspolitik: Grüner Selbsthaß
Gelegentlich, wenn der Tag lang oder ein Mikrofon aufgestellt ist, sprechen unsere grünen Funktionäre von uns, von den neuen Mittelschichten und davon, daß wer diese Schichten vertrete, die Mitte der Gesellschaft repräsentiere und damit zukunftsfähig werde. Tobt zudem noch ein Wahlkampf, so mag die eine oder der andere auch über die Grenzen der finanziellen Belastbarkeit „unserer Wähler“ und – versteht sich – „Wählerinnen“ sprechen. Mindestens soviel fällt dabei: Überschäumend ist der Enthusiasmus für das soziale Mindesteinkommen, für einen Lastenausgleich zwischen den Verdienstschichten, für ein Abschöpfen ererbten Vermögens derzeit nicht.
Um so schriller klingt die Klage über Bürokratie und die Lohnnebenkosten. Daß die Vertreter einer sich als bedrängt ausgebenden Wirtschaft dieses Stück geben, ist weder erstaunlich noch in besonderem Maße vorwerfbar – beunruhigend ist allerdings die Naivität, mit der herrschaftskritische, gegen soziale Ungerechtigkeit und ökologische Verwüstung auftretende Gruppen sich auf dieses Glatteis führen lassen. Der Arme, so hat es Marxens Lehrmeister Hegel gesagt, der die Freiheit des Eigentums ebenso bejahte wie er den Liberalismus verachtete, ist das Ergebnis meines Willens. Sein Vorschlag zur Behebung dieser Spannung bestand in dem, was er „Policey“ nannte und was kaum anderes sein sollte als der Sozialstaat mit seinen verkleinerbaren, aber nicht verzichtbaren Bürokratien.
Der im 19. Jahrhundert entstandene Sozialstaat, an dessen Zustandekommen konservativer Paternalismus, liberale Einsicht in die Befriedung einer von Klassenkämpfen gespaltenen Gesellschaft und der Emanzipationswille der Arbeiterschaft gleichermaßen beteiligt waren, stellt in seiner rechtlichen Form die komplexen Gesellschaften einzig angemessene Form einer umfassenden Solidarität von Bürgerinnen und Bürgern dar. Im Sozialstaat versichern sie auf der Basis von Recht und Demokratie einander, sich minimale Gerechtigkeit und Respekt auch dann entgegenzubringen, wenn die Wechselfälle einer auf privatem Eigentum und Wettbewerb beruhenden Ökonomie einzelne oder ganze Schichten in eine materielle Lage bringen, die sie ihrer formalen bürgerlichen Freiheiten zwar nicht beraubt, diese aber doch so weit in ihrem Wert mindert, daß diese Entwertung von einer Beraubung kaum noch zu unterscheiden ist.
Die von den Bündnisgrünen auf ihrem Weg zur mittleren Mitte derzeit geführte wirtschaftspolitische Debatte ist bemüht, bürgerliche Solidität auszustrahlen. Jenseits aller auf Staatsintervention – also mit Instrumenten des Polizei- und Planungsrechts operierender Umbauprogramme – soll die Umwelt einerseits durch eine ökologische Steuerreform und am Markt käufliche Sonderziehungsrechte auf Umweltbelastung, andererseits durch einen schonungsvollen Umgang mit den öffentlichen Geldern, durch Abbau der Verschuldung zugunsten der kommenden Generationen gerettet werden. Diese Politik, früher schlicht und zutreffend „Austeritypolitik“ genannt, schmückt sich mit dem Gedanken, daß es auch beim Sparen vor allem darum gehe, die Welt für „unsere Kinder“ zu bewahren. Die Debatten der bündnisgrünen Bundestagsfraktion, mögliche Erträge einer ökologischen Steuerreform im Prinzip nicht zur Kompensation sozialer Disparitäten zu verwenden, bestätigt die liberale Note dieses Programms. Noch deutlicher findet die besitzbürgerliche Komponente dieser Wirtschaftspolitik ihren Ausdruck, wo bündnisgrüne Politiker in Bund, Ländern und Gemeinden „Verantwortung“ tragen: Wer bei bestehender Vermögens- und Einkommensungleichheit lediglich spart, projiziert bestehende Ungleichheiten einfach auf die Zukunft. Daß diese Politik nur im Interesse derjenigen liegen kann, die derzeit über ein ansehnliches Eigentum verfügen, liegt auf der Hand.
Der Versuch, finanzpolitisch sinnvolles Sparen als eine Spielart ökologischer Politik darzustellen ist blanke ideologische Camouflage. Die natürliche Umwelt ist eine unwiderrufliche und unumkehrbare dahinschwindende Ressource – der materielle Reichtum einer Gesellschaft nicht. Dieser Reichtum ist sehr wohl regenerierbar. Deshalb ist es allemal zulässig, zu seiner Sicherung und Entwicklung Kredite aufzunehmen.
Was macht es uns Bündnisgrünen so schwer, dies zu akzeptieren? Kommt die Rede auf soziale Probleme, so fordern nicht wenige in der Nullsprache der werbenden Wirtschaft „intelligente Konzepte“. Als ob ein so epochales Problem wie die systematische Ungleichverteilung von Vermögen, Reichtum, Lebens- und Bildungschancen – in Deutschland, in Europa, auf der ganzen Welt – nur eines guten Willens und eines bißchen Gripses bedürfte, wie das der Tüftlerbegriff von den „intelligenten Konzepten“ nahelegt. Der Sozialstaat ist die reformistische, relativ gewaltfreie, nicht immer repressionsfreie, meist demokratische Antwort auf den diktatorischen, sich selbst als „real“ bezeichnenden Sozialismus gewesen. Dieser Sozialstaat hat, jedenfalls in unseren milden Breiten noch – gerade noch – sichergestellt, daß die Freiheiten, die in liberalen Verfassungen niedergelegt sind, annähernd ihren Wert behalten. Die historische Erfahrung zeigt, daß liberale Parteien, weil sie eben vom umfassend gedachten Eigentum und nicht von der nur kollektiv möglichen demokratischen Autonomie aller Staatsbürger her denken, früher oder später auf Distanz zum Sozialstaat gehen.
So müßten wir uns selbst soviel Mißtrauen, ja geradezu ideologiekritische Skepsis entgegenbringen, daß wir bekennen: Wir sind in derlei Fragen trotz „intelligenter Konzepte“ nicht zuverlässig, weil das sozialstaatliche Projekt für die meisten Wähler und Mitglieder der Partei (noch) nicht von existentiellem Interesse ist.
Dieser Zustand wird sich auch in Deutschland bald, allzubald ändern. Ob die Bündnisgrünen wenigstens dann die Zeichen der Zeit verstehen werden, darf bezweifelt werden. Wir sind zu viele Beamte und Angestellte, die voller Selbsthaß die freie Initiative loben und deshalb den Sozialstaat auch dann noch „umbauen“ wollen, wenn er längst wieder gebraucht wird. Micha Brumlik
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