■ Bücher.klein: Böseböse-Jugend
Die Deutschen haben Schwierigkeiten mit den Jugendlichen. Gewalt ist die zentrale Begrifflichkeit, die heute mit diesem Lebensabschnitt assoziiert wird. Jugendliche erscheinen als Sicherheitsrisiko, als Staatsfeind Nr.1. Natürlich schwant vielen, daß die Dämonisierung jugendlichen Verhaltens weniger mit den vorgefundenen Realitäten zu tun hat als vielmehr mit den Kopfpaniken Erwachsener, die angesichts der von ihnen miterschaffenen (Um)welt ein allgemeines Unbehagen an der Kultur befällt. Dennoch ist viel von der Rekonstruktion verbindlicher Werte die Rede, mit denen man hofft, die „Monsterkids“ auf Kurs zu bringen.
Die derzeitige Jugendrezeption besticht durch ihren ahistorischen Blickwinkel. Fast scheint es, als wäre den Analytikern das Werkzeug abhanden gekommen, seitdem sich jugendliche Reaktionen auf soziale Veränderungen nicht mehr in „sozialen Bewegungen“ manifestieren. Zeit also, sich wieder einmal „Klassiker“ der historischen Jugendforschung vorzunehmen. Allemal eine lohnende Lektüre ist die von John R. Gillis bereits Anfang der 70er verfaßte „Geschichte der Jugend“, die nun in einer Taschenbuchausgabe vorliegt. Im Zentrum der Abhandlung steht die These „Jugend macht ihre eigene Geschichte“.
Gillis rekapituliert die Lebenswelten Jugendlicher vom vorindustriellen Europa bis zum Beginn der siebziger Jahre und beschreibt die sozialen und kulturellen Formen, die sie in der Konfrontation mit dem Vorgefundenen entwickelten. Stets waren dabei die demographischen und ökonomischen Verhältnisse richtungsweisend, „wenn die Jugend ihren Kurs auf der Karte des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens abgesteckt hat“.
Bandenunwesen, Jugendkriminalität, studentischer Radikalismus, Formen des Jugendbrauchtums also, die wir der Gegenwart zuschreiben, lassen sich wenigstens 200 Jahre zurückverfolgen. Normabweichendes Verhalten gehört ebenso zum festen Bestandteil jugendlicher Reaktionen wie erstaunliche Formen der Selbstregulation. Mit zum Teil unglaublicher moralischer Emphase wirkten Jugendgruppen als Tugendwächter und regulierten den Zugang zum Heirats- und Beziehungsmarkt oder gaben sich Regeln für ein „gesittetes“ Freizeitverhalten, die die Ehre der Gruppenmitglieder gewährleisteten.
Gillis' Resümee ist aus pädagogischer Sicht niederschmetternd. Die Hoffnung der Eltern und Erziehenden, einen entscheidenden Einfluß auf das Handeln Jugendlicher zu nehmen, hat sich zu keinem historischen Zeitpunkt erfüllt. Jugend macht ihre eigene Geschichte. Eberhard Seidel-Pielen
John R. Gillis: „Geschichte der Jugend“. Beltz-Quadriga-Buch bei Heyne, München 1994, 319 Seiten, 19,80 DM
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