■ Bücher.klein: Backebacke-Schule
Institutionen wie die Schule brauchen ab und zu Momente der Selbstbesinnung. Ablesbar sind diese Zäsuren oft an der Zunahme der Veröffentlichungen, die auf dem pädagogischen Meinungsmarkt erscheinen. Die aktuelle Schuldebatte wurde zwar von einem äußeren Anlaß ausgelöst: der Frage nach dem Funktionieren schulischer Erziehung angesichts eruptiver Gewaltakte Jugendlicher wie in Mölln und Solingen. Die Ursachen für das Aufbrechen der Diskussion über die Schule reichen jedoch tiefer: Viele Lehrer empfinden seit einigen Jahren ein tiefes Unbehagen über ihren Beruf. In der praktischen Arbeit schwanken sie zwischen Resignation und Ratlosigkeit. Oft ist es nur die Prise Zynismus, die sie die als schlecht erlebte schulische Realität aushalten läßt. Das Buch von Kurt Aurin kommt in dieser Debatte verblüffend optimistisch daher: „Gemeinsam Schule machen“! Und was lernen die Leser?
Die wichtigste These kommt nur beiläufig zur Sprache: Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, daß die Qualität einer Schule – zu messen u.a. am Zufriedenheitsgrad aller Beteiligten – sich nicht in erster Linie bemißt nach ihrer Zugehörigkeit zu einem System (Gesamtschule, dreigliedriges Schulsystem), sondern vor allem nach dem Engagement des Lehrpersonals und dessen pädagogisch- fachlicher Kompetenz. Die Kämpfe um das „richtige“ Schulsystem, die sich Berufsverbände und Parteien in den letzten 15 Jahren geliefert haben, waren dann wohl einer Scheinkontroverse geschuldete Glaubenskämpfe. Ob die Kombattanten wenigstens jetzt die Visiere runterlassen und sich den wahren Problemen widmen?
Im Hauptteil referiert und bewertet der Autor recht umständlich und in professoraler Diktion eine Fallstudie, die Wissenschaftler der Universität Freiburg und der Deutschen Forschungsgesellschaft über fünf Gymnasien in Baden- Württemberg zusammengestellt haben. Die Ausgangsfrage war dabei, wie unter den drei Gruppen, die in der Schule aktiv sind (Lehrer, Schüler und Eltern), ein pädagogischer Konsens herstellbar ist, der zu einem fruchtbaren Miteinander im Schulalltag und dadurch zu einer höheren Schulqualität führt. Die Ergebnisse sind so allgemein wie voraussehbar: Konsens ist möglich, wenn die Meinungs- und Interessenunterschiede demokratisch ausgetragen werden und Kooperation immer zum obersten Leitziel der Arbeit gemacht wird. Dies steht übrigens in jedem Lehrbuch der modernen Didaktik und in jedem Schulgesetz unserer Bundesländer.
Das ganze Buch bleibt merkwürdig unberührt von den Turbulenzen und Brüchen, die Schule heute ausmachen. Das liegt nicht nur an den untersuchten schwäbischen Gymnasien, wo die Welt noch in Ordnung ist. Es ist ein Resultat der wissenschaftlichen Befragungsmethode selber. Wenn nur die idealtypischen Erwartungshaltungen von Lehrern und Schülern und motivierten Elternvertretern befragt werden, bleibt die Realität außen vor. Das grundlegende Dilemma heutiger schulischer Erziehung kommt im ganzen Buch leider nicht zur Sprache: Wie muß Schule organisiert werden, daß sie die Bedürfnisse der Kinder nach Orientierung, Identifikation und Zugehörigkeit befriedigt? Reiner Werner
Kurt Aurin: „Gemeinsam Schule machen. Schüler, Lehrer, Eltern – ist Konsens möglich?“. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 1994, 190 S., 28 DM
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