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Bücher für RandgruppenStretchballon hält Baby in die Höhe

■ Mini-Menhire, Spatzen auf Charly Chaplin – aus der bunten Welt der Künstlerkataloge

Kunstkritiker bekommen sie gratis zugesteckt und leben zuweilen vom diskreten Weiterverkauf besonders gefragter Exemplare: Kunstkataloge, oft hoch subventioniert und zum Dasein als Ladenhüter verdammt. Bekanntere Künstlernamen schleppen sich palettenweise als buntes, dickes Hochglanzteil in die modernen Ramschläden, wo sie „stark heruntergesetzt“ interessierte Käufer suchen. Doch hin und wieder finden sich auch schöne Kataloge und Künstlerbücher, kleine Kunstwerke, die auch nach vollzogener Ausstellung noch die Betrachtung lohnen.

Eines davon trägt den Titel „Khuza – Ein Mythos aus Sibirien“ und erforscht die Kultur einer Volksgruppe, die, obgleich längst erloschen, mannigfache Einflüsse auf die Entwicklungsgeschichte der Menschheit und ihre zivilisatorischen Leistungen hatte. Der Karlsruher Künstler Klaus Heid reiste in die sibirische Steppe, zum Baikalsee, zur Insel Olkhon, auf der Suche nach den Überresten dieser ethnischen Randgruppe. Seine archäologischen Artefakte, Fundstücke aus dem frostigen Tundraboden, zeigen die ganze weltanschauliche Vielfalt der Khuza-Kultur, bei der der Ring ein zentrales Modell darstellt: Er wird zum Töten großer Fische genauso verwendet wie zum Tauschhandel, dient als Schmuck, ist Kultobjekt und kosmisches Weltbild. Neben den Ohrplastiken aus Stein verdienen die granitenen Beschwerdefiguren größtes Interesse.

Die 10 bis 15 Zentimeter hohen Steine, Mini-Menhire, deren Existenz bislang nicht bekannt war, befanden sich in jedem Khuza-Haushalt, waren Zielobjekt der täglichen Klagen und Beschwerden, die wiederum Grundlage der uns nahezu unbekannten Khuza-Literatur sind. Vom Hauptwerk, namentlich Große Weltbeschwerde, ist bedauerlicherweise nichts mehr überliefert. Um so erfreulicher ist daher das im Anhang befindliche Lexikon, das auch den Außenstehenden einen kleinen, ersten Eindruck dieser interessanten und sicher zu Unrecht vergessenen Kultur vermittelt. Nicht zu Unrecht vergessen, sondern weltberühmt ist der amerikanische Bildhauer Richard Serra. Der jüngst erschienene Katalog zeigt erstmals komplett seine zwischen 1985 und 1998 entstandenen Stahlskulpturen in diversen Umgebungen: im neogotischen Ambiente eines Flurs der Yale-Universität, im Park, in der Galerie, im Atelier und die Steinsetzungen des Minimalisten auf der isländischen Insel Videy. Der Katalog lebt nicht zuletzt von den großartigen Schwarzweißfotografien Dirk Reinartz', dem es gelingt, die Korrespondenz der Objekte mit der Landschaft einzufangen und doch dabei den Kontrast zwischen Skulptur und Umgebung deutlich zu machen. Besonders eindrucksvoll sichtbar wird das in der Dokumentation zu der Arbeit Afangar, Stationen, die Serra 1990 mit isländischem Säulenbasalt auf der Insel Videy vor Reykjavik realisierte.

Während der Schiffsüberfahrt zu dieser Eröffnung fiel seinerzeit der Kopf des angeheiterten isländischen Kultusministers auf meine Schulter, und beim Inselspaziergang konnte ich Serra eine im Gras unter der Steinsäule brütende, furchtlose Eiderente zeigen, woraufhin er mir erzählte, daß auch auf Berlin Block for Charly Chaplin – „meine Lieblingsskulptur“ – vor der Berliner Nationalgalerie hin und wieder Krähen und Spatzen landen.

Sozusagen als eine mögliche Negativform von Serras massiven Objekten könnte man die luftschweren Latexballons in Hans Hemmerts attraktivem Katalog betrachten. Der Raum füllt sich mit gelben, amorphen Skulpturen, Latex überzieht Objekte, die Grenzen von innen und außen werden gereizt, und ein alienartiger Stretchballon hebt ein entzücktes Baby in die Höhe. Wolfgang Müller

Klaus Heid: „Khuza“. Katalog über Internet: http://www . tuareg.de/khuza, 39 DM

Richard Serra: „Sculpture“. Steidl Verlag, 78 DM

Hans Hemmert, Katalog. Galerie Gebauer, Torstr. 220, 10115 Berlin, 25 DM

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