■ Buchtip: Schöne Bescherung
In mehr als 40 Jahren Eigentherapie haben sich die Deutschen zu wackeren Internationalisten entwickelt. Der Charakterpanzer ist gesprengt. Zum Vorschein kommen Menschen, die das Nichtstun lieben, die Steuerhinterziehung als Volkssport betreiben und einem korrupten Politiker allenfalls noch soviel Aufmerksamkeit schenken wie die US-Amerikaner einem Fußballspiel in Chicago. Seit sich Deutschland in eine Antifa-Republik verwandelte, wäre es unfair, weiterhin das liebgewordene Bild vom „häßlichen Deutschen“ zu pflegen. Schließlich kommen 1995 auf jeden militanten Neonazi mindestens ein Staatsschützer, ein Rechtsextremismusexperte und ein Sozialarbeiter. Es wird gegen Ausländerfeindlichkeit, gegen Brandstiftungen an Synagogen und politisch unkorrekte Filme über Neonazis demonstriert, debattiert und analysiert. Aber der Mensch entspricht keineswegs dem Bild, das er selbst von sich zusammenbastelt. Also jagt Henryk M. Broder in 43 Kapiteln durch die Republik, um zu prüfen, wie es um Antisemitismus, deutsches Selbstbewußtsein und deutsch-deutsches „Zusammenwachsen“ bestellt ist. Sein Fazit: „Das häßliche Deutschland erweist sich als zählebiger, als es der häßliche Deutsche war.“
Zwar ist der Slogan „Die Juden sind unser Unglück“ in Deutschland ein wenig außer Mode gekommen, aber die Auffassung, die Juden wären schon irgendwie an ihrem Unglück selber schuld, hält sich hartnäckig. Die zeitgemäße Variante, die Hans-Christian Ströbele mitten im Golfkrieg lieferte, als er erklärte, die irakischen Raketenangriffe auf Israel wären die „logische, fast zwingende Folge der israelischen Politik“, wurde von vielen Bürgern und konservativen Politikern in modifizierter Form übernommen, als die Asylsuchenden zu den eigentlich Verantwortlichen für die rund 2.000 Brandanschläge auf ihre Unterkünfte und Wohnungen gemacht wurden. Zur Höchstform läuft Broder in „Schöne Bescherung!“ immer dann auf, wenn er sich die herausragendste Eigenschaft der Deutschen, die „Vergangenheitsbewältigung“, vorknöpft. Kein Autor beschrieb in den letzten Jahren derart präzise und kontinuierlich die Amnesie, die die Ostdeutschen befällt, wenn sie wieder einmal laut über die „Kolonialisierung“ lamentieren, ihrer geraubten Identität und den Verlust der Kuschelecke DDR nachheulen. Broders Texte sind böse, und sie sind anarchistisch. Sie schärfen die Widerstandskraft gegen eine Rhetorik, die uns einmal mehr das subalterne, devote Dienen im Dienste eines autoritär-totalitären Machtapparats als Tugend ohne Nebenwirkungen anpreisen möchte.Eberhard Seidel-Pielen
Henryk M. Broder: Schöne Bescherung! Unterwegs im Neuen Deutschland“. Ölbaum Verlag, Augsburg 1994, 186 S., 29,80 DM.
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