Buch über Wetter und sozialen Wandel: Wie eine Eiszeit Europa veränderte

Hat uns eine Kälteperiode den Kapitalismus gebracht? In seinem neuen Buch schreibt Philipp Blom über die Entstehung der modernen Welt.

Ein zugefrorenes Stück See mit Riss

Kälte verändert nicht nur die Natur selbst, schreibt Blom, sondern auch Gesellschaften Foto: dpa

Es ist eine Epoche, da hält ein Kälteeinbruch Europa im Griff. Im Winter gefrieren nicht nur die Londoner Themse und die Flüsse Flanderns, sogar der Hafen des südfranzösischen Marseille erstarrt. Vögel fallen erfroren vom Himmel. In verregneten Sommern verfault das Korn auf den Feldern. Dürren folgen sintflutartigen Unwettern. Hagelschauer zerschlagen die Getreide- und Weinernte. Brennholz und Brot werden teuer. Hungernde Menschen machen Aufstände gegen die steigenden Lebensmittelpreise. Und Hunger leiden sie jetzt oft, die Europäer, seitdem sich die Temperaturen geändert haben.

Ein apokalyptischer Blick in die Zukunft auf den Klimawandel und die Verteilungskämpfe, die er uns bringen wird? Nein, das ist die Realität während der Kleinen Eiszeit im 16. und 17. Jahrhundert. In dieser Zeit sinken die Temperaturen um zwei Grad unter unser heutiges Niveau, und um rund vier Grad unter den damaligen Durchschnitt. Was macht so ein Temperatursprung konkret mit einer Gesellschaft?

Der Historiker und Journalist Philipp Blom hat sich diese Frage gestellt und die Kleine Eiszeit auf ihre kulturellen und politischen Auswirkungen hin untersucht. Er stellt fest: Die Wetterkapriolen zerstören in dieser Epoche nicht nur zahllose Ernten, sondern pflügen die gesamte gesellschaftliche Ordnung Europas um. Hat bislang der Feudalismus die soziale ­Hierarchie und die Subsistenzwirtschaft die Anbauweise geprägt, schwankt nun die Vormacht des Adels, weil durch die Missernten auch die Zwangsabgaben der Bauern mager werden.

Neue Lösungen müssen her. In England ist eine davon: Die Allmenden, die Gemeindewiesen, auf denen traditionell die, die wenig oder kein Land haben, ihr Vieh weiden lassen dürfen und Winterfutter schneiden, werden privatisiert, eingezäunt und in Schafweiden verwandelt. Wolle erzielt damals hohe Preise. Diese Umwidmung der commons zu enclosures markiert den Beginn des Kapitalismus – auf dem Rücken der Ärmsten. Weil Getreide nun oft von weither importiert werden muss, vom Baltikum bis nach Spanien, beginnen Spekulanten und „der Markt“ die Getreidepreise zu bestimmen. Rohstoffe und Sklaven in den neu eroberten Kolonien werden als Einnahmequellen unverzichtbar und noch erbarmungsloser ausgebeutet.

Natur wurde empirisch

Zugleich beginnt ein systematisches Forschen nach ertragreicherem Saatgut und besseren Anbaumethoden. Die Botanik bekommt einen Schub, vor allem durch den flämischen Pflanzenkenner Carolus ­Clusius, der ab 1593 an der Universität Leiden lehrt, die – welche Neuerung – an keine Konfession gebunden ist. Clusius’ Erkenntnisse werden gedruckt, verbreitet und verwendet. Leiden ist ein Beispiel dafür, wie sich das Denken vom theologischen Deuten und Argumentieren löst, wie Gelehrte beginnen, Natur methodisch zu beobachten und empirisch zu arbeiten.

Philipp Blom: „Die Welt aus den Angeln“. Carl Hanser Verlag, München 2017, 302 S., 24 €

Frühaufklärerische Freigeister wie Michel de Montaigne, René Descartes, Baruch de Spinoza oder John Locke schreiben über die Natur des Menschen, räsonieren über Themen wie Freiheit und Gleichheit, ohne sich dabei stets auf die Bibel zu beziehen. Der Franzose Pierre Bayle argumentiert gar, auch Atheisten könnten tugendhafte Menschen sein. Blom porträtiert sie in packenden Kurzporträts.

Manche steigen auf, andere ab

Auf der Basis zahlreicher, teils bewegender Zeugnisse faltet der Autor das „eherne“ Zeitalter Kapitel für Kapitel wie einen Fächer auf, bis sich ein faszinierendes Gesamtbild zeigt: Da sind die zugefrorenen Seen, auf denen die Menschen Schlittschuh fahren, festgehalten im Genre der flämischen Winterbilder. Da sind die eingekesselten Pariser, die sogar Hunde und Katzen essen müssen im Jahr 1590, in dem Religionskriege Frankreich quälen.

Am liebsten würde Alina Lanisch ihre Mutter niemals wiedersehen, zu oft wurde sie verletzt. Ihre Mutter ist manisch-depressiv. In der taz.am wochenende vom 24./25. Juni schreibt sie über die Hilflosigkeit einer Tochter, die nie eine Tochter sein konnte. Außerdem: Ein Ex-SED-Funktionär gibt sich als jordanischer Honorarkonsul aus und lebt viele Jahre in einem Schloss. Und: Neil Harbisson ist der erste anerkannte Cyborg der Welt. Im Gespräch erzählt der Brite, wie der Himmel klingt. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Da ist der Pulverdampf des 30-jährigen Krieges, wo der Tod nicht mehr nur durch Lanzen, sondern auch durch den Lauf der Musketen kommt. Da geht Spaniens Armada im Sturm unter – und später sein Königshaus pleite, weil es zu viel Silber aus seinen Kolonien importiert hat. Die ressourcenarmen Niederlande hingegen steigen auf zu einem modernen Land, in dem Ingenieure mit Windmühlenkraft dem Meer Anbauflächen abtrotzen. Indes flackern vor allem in Süddeutschland die Scheiterhaufen, auf denen angebliche Hexen verbrennen – man hatte Schuldige gesucht für die katastrophalen Ernteausfälle.

Im letzten Kapitel wird der Autor zum Warner

Gerade weil die Entwicklungen in den verschiedenen Regionen Europas bald parallel, bald gegenläufig verlaufen, hier modern, dort rückschrittlich, liegt die Überzeugungskraft in Bloms These: Die Kleine Eiszeit ist das verbindende Glied, das diese Ereignisse auslöst oder verstärkt. Der Historiker schildert die Kälteperiode zwar nicht als alleinigen Faktor, aber als starken Katalysator für sozialen Wandel und den Beginn eines merkantilistisches Profitstrebens.

Im letzten Kapitel schlägt Blom den Bogen zu uns, die wir uns wieder in einem Klimawandel befinden. Erste Folgen sehen wir: Der Verlust an fruchtbarem Ackerboden durch Versteppung bringt Abertausende von Menschen dazu, sich anderswo ein besseres Leben zu suchen. Parallel formiert sich in liberalen Gesellschaften das, was Blom den „autoritären Traum“ nennt und zu dem das Ausgrenzen von Minderheiten und Fremden gehört.

„Was auf dem Spiel steht“, so hat der Historiker dieses Kapitel genannt, in dem er eher in der Rolle des Warners ist: Jetzt, wo wir so viel über die sozialen Konflikte und Umbrüche von damals wissen und zugleich so viele Daten über den bevorstehenden Klimawandel haben, jetzt, wo es uns gut geht, wäre die Zeit, solidarische, ökologische und friedliche Lösungen zu finden. „Die Welt aus den Angeln“ ist ein lesenswertes Buch, das gute Argumente dafür ­liefert.

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