Buch über Baumwollkapitalismus: Weißes Gold, voller Blut
In „King Cotton“ erzählt der Historiker Sven Beckert, wie sich aus der Geschichte der Baumwolle die gegenwärtige Weltgesellschaft entwickelte.
Wer die Welt von gestern nicht kennt, kann die Welt von heute nur schwer verstehen. Gute Bücher können zwischen beiden Welten vermitteln und das Verständnis des Ganzen fördern; Hegel nannte dieses Ziel der Erkenntnis anspruchsvoll: Totalität.
Bücher, die eine gesellschaftsgeschichtliche Totalität erfassen, sind äußerst selten zu finden; aber seit die Geschichtswissenschaft begonnen hat, ihre nationalen Scheuklappen abzuwerfen, wird der neugierige Leser immer öfter von großen globalgeschichtlichen Würfen überrascht, die einen die Welt von gestern mit anderen Augen sehen lassen und auf die Welt von heute ein neues Licht werfen.
Mit „King Cotton“ ist dem in Harvard lehrenden Historiker Sven Beckert ein solcher Wurf gelungen, der den Rezensenten in staunende Bewunderung einer gelungenen weltgeschichtlichen tour d’horizon versetzt. Beckert gelingt es in einem atemberaubenden Tempo auf fünfhundert prallen Seiten, aus der Geschichte der Baumwolle die Genesis der gegenwärtigen Weltgesellschaft zu entwickeln.
Das dicke Buch ist flüssig geschrieben; die Geschichte wird spannend und anschaulich erzählt. Beckerts weltumfassende Materialkenntnis beruht auf einem soliden Wissen, das er aus dem Bestand vieler Bibliotheken und Archive von Osaka bis Bremen, von Barcelona bis Mumbai, von Manchester bis Harvard mit einem beeindruckenden Mitarbeiterstab geschöpft hat. Das Buch beginnt mit der Weltgeschichte des Baumwollanbaus in den zivilisatorischen Anfängen der Menschheit und endet in der Weltgesellschaft der Gegenwart.
Sven Beckert: „King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus“. C. H. Beck, München 2014, 525 S., 29,95 Euro
Das Herzstück bildet allerdings die Epoche von 1860 bis 1960, in der sich die Konstitution des globalen Kapitalismus ablesen lässt. Das Produkt Baumwolle ist gut gewählt; denn das Baumwollimperium mit King Cotton steht im Mittelpunkt dieses Konstitutionsprozesses. Die Ware Baumwolle ist ein ganz besonderer Stoff und es ist kein Zufall, dass im ersten Kapitel von Karl Marx’ „Kapital“ das „Bekleidungsbedürfnis“ am Anfang seiner Erläuterung des Gebrauchswerts einer Ware steht. Dieses universelle Bedürfnis wird auch heute von einer global agierenden Textilwirtschaft, deren weicher Kern immer noch die Baumwolle ist, befriedigt.
Zivilisation und Barbarei bedingen sich einander
Beckerts Ziel im Unterschied zu Marx ist es nicht, die Gesellschaft unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit zu beschreiben, sondern er will den „Kapitalismus in Aktion“ als ein sich ständig selbst revolutionierendes System zeigen. Beiden Versuchen, die weltgeschichtliche Dynamik zu begreifen, ist die Einsicht gemeinsam, dass in der Geschichte des Kapitalismus Zivilisation und Barbarei sich einander bedingen. Der Amerikanische Bürgerkrieg 1861 bis 1865 wird bei Beckert zum Schnittpunkt zwischen einer Phase des „Kriegskapitalismus“ und des aufkommenden Industriekapitalismus.
Mit der glücklichen Begriffswahl „Kriegskapitalismus“ gelingt es Beckert die Rolle von Kolonialismus, Gewalt und Zwang in den Konstitutionsprozess der modernen Gesellschaft zu integrieren – Landraub, Menschenverschleppung und Zwangsarbeit sind unabdingbare Voraussetzungen der „Great Divergence“ (Kenneth Pommeranz), der globalen Wohlstands- und Machtungleicheit, die noch in den weltpolitischen Konflikten der Gegenwart wirksam ist.
Die apologetischen Begründungen westlicher Überlegenheit, die viel beschworenen westlichen Werte, schmelzen wie Schnee in der Sonne, wenn man Beckerts Schilderung des Empire folgt, das Liverpool – und nicht Paris – zur Hauptstadt des 19. Jahrhunderts machte: „… die erste industrialisierte Nation, Großbritannien, war ein imperialistischer Staat mit enormen Militärausgaben, mit einer stark in das Wirtschaftsleben eingreifenden Bürokratie, hohen Steuern, hoher Staatsverschuldung und Protektionismus – und dieser Staat war auf keinen Fall demokratisch“.
Der Reichtum Liverpools lag in der Schlüsselfunktion dieser Stadt, die von schwarzen Sklaven in den Südstaaten der USA billig produzierte Baumwolle mit der textilverabeitenden Industrie Lancashires vermittelte. Von hier belieferten Handelsschiffe die ganze Welt mit industriell erzeugter Kleidung, eroberten riesige neue Märkte wie zum Beispiel Indien, dessen einst Europa überlegene Baumwollproduktion durch den Kolonialismus zerstört worden war.
Doch das Ende der Sklavenwirtschaft in den USA erforderte eine Umstellung der Rohstoffproduktion auf Billiglohnarbeit, die den Baumwollanbau schon Ende des 19. Jahrhunderts nach Asien zurückkehren ließen. Im letzten Jahrhundert ist auch die Textilproduktion nach Asien ausgewandert, deren Ziele von großen Handelskonzernen wie Wal Mart, Metro oder Carrefour diktiert werden.
Wer den Einsturz der Textilfabrik in Bangladesch vor Augen hat, muss kein Moralist sein, um zu wissen, dass nicht nur an jedem T-Shirt Blut klebt. Von den ökologischen Kosten ganz zu schweigen: Insektizide, Herbizide, die Böden und Gesundheit ruinieren, 2.700 Liter Wasser für ein einziges T-Shirt. Beckerts realistischer Blick auf den „Kapitalismus in Aktion“ macht den Leser frösteln.
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