Britisches Filmdrama über Teenager: Leben im Aquarium
"Fish Tank", der zweite Film der Regisseurin Andrea Arnold, spielt in britischen Sozialbausiedlungen. Schauspielneuling Katie Jarvis bewegt sich darin wie eine Naturgewalt.
Als Teenager hat man noch Träume. Sie fallen bloß etwas bescheidener aus, wenn man in einer Sozialbausiedlung in der englischen Provinz aufwächst.
Die 15 Jahre alte Mia träumt von einer Karriere als Tänzerin. Wenn sie wieder mal die Schule schwänzt, probt sie vor dem Fernseher neue HipHop-Tanzschritte. Einer Gruppe Mädchen, die auf dem Parkplatz dasselbe tut, verpasst sie eine Abreibung. Das geht ganz schnell, Mia fackelt nie lange. Fernseher und Walkman sind ihre Flucht aus dem tristen Alltag. Die Mutter hat ihre Fürsorgepflichten längst aufgegeben, der Generationenkontrakt ist gebrochen, und mit der kleinen Schwester gibt es ständig Zoff.
Andrea Arnolds zweite Regiearbeit "Fish Tank" lässt ihren Figuren kaum Handlungsspielraum; das titelgebende Aquarium wird zur Metapher für ein Leben, das sich in erbarmungsloser Monotonie um sich selbst dreht. Für einen Ausbruch aus diesem Gefängnis fehlt es schlicht an der nötigen Vorstellungskraft.
Es gibt auch ein weißes Pferd in Mias Leben, aber das ist schon zu alt, um noch einen schönen Prinzen zu tragen, der das Mädchen an einen besseren Ort entführt. Der Gaul fristet seine letzten Tage auf einem Schrottplatz nahe Mias Wohnsiedlung, drei halbstarke Brüder bewachen ihn. Mias Versuche, das Pferd zu befreien, scheitern kläglich, ohnehin bleibt fraglich, ob das Tier mit der gewonnenen Freiheit überhaupt etwas anzufangen wüsste. Ein Prinz taucht dann doch noch in Mias Leben auf, allerdings kommt er nicht auf einem Schimmel daher, sondern in einem dunkelblauen Kombi.
Connor (Michael Fassbender) ist der neue Freund ihrer Mutter und steht eines Morgens einfach in der Küche. Zunächst zeigt sich Mia irritiert von dem Eindringling. Aber da ist auch eine mädchenhafte Neugier in ihren verstohlenen Blicken zu spüren, denn sie erkennt in Connor einen potenziellen Verbündeten. Wer der Tochter der Freundin auf einer Spritztour ins Grüne Bobby Womack vorspielt, kann schließlich kein schlechter Mensch sein. Der Familienausflug mit Mutter, Freund und Schwester erinnert dann doch ein wenig an die Entführung an einen besseren Ort, wenigstens für einen Moment.
Connor steht mit hochgekrempelten Hosenbeinen in einem Tümpel und fängt mit bloßen Händen einen Fisch. Später tanzen er und Mia zu James Brown auf einem Rastplatz. Die Unbeschwertheit ist ansteckend, aber es soll das letzte Mal sein, dass die vier so einträchtig beieinanderstehen. Wenn Mia am Ende noch einmal gemeinsam mit der Mutter zu einem Song von Nas tanzt, liegt bereits ein Hauch von Abschied in der Luft. Mia hat eine fundamentale Erfahrung in ihrem jungen Leben gemacht, und von hieran kann es für sie kein Zurück mehr geben.
Für Andrea Arnold sind die Sozialbausiedlungen der britischen Trabantenstädte kein filmisches Neuland. Ihr Regiedebüt "Red Road" beobachtete eine introvertierte Frau im Auftrag eines privaten Sicherheitsdienstes auf Überwachungsmonitoren die Straßenzüge eines heruntergekommenen Hochhauskomplexes. Doch Kitchen-Sink-Romantik liegt Arnold im Prinzip fern; ihre Filme sind mehr Charakter- denn Milieustudien. Arnolds Figuren scheinen dazu verdammt, zu beobachten statt zu partizipieren - weil ihnen die entsprechenden sozialen Werkzeuge abhandengekommen sind oder sie deren Handhabe erst noch erlernen müssen.
Von den Erwachsenen hat Mia sicher nichts zu lernen. Die Aufmerksamkeit Connors tut ihr zwar gut. Aber auch Connor ist schwach, im entscheidenden Moment nutzt er ihre Verletzlichkeit aus. Als die Mutter mal wieder besoffen im Bett liegt, verführt der Mann die Tochter seiner Freundin. Am nächsten Morgen ist er aus ihrem Leben verschwunden. Und Mia, betrogen, ausgenutzt und von ihren Gefühlen überfordert, sieht rot.
Wohin mit den Gefühlen
Die Schauspieldebütantin Katie Jarvis ist das emotionale Zentrum vom "Fish Tank". Wie eine Naturgewalt bewegt sie sich durch den Film, ein wütender Teenager, der mit seinen Mitmenschen permanent auf Konfrontationskurs geht. Arnold soll sie auf der Straße beim Streit mit ihrem Freund entdeckt und auf der Stelle engagiert haben. Die Geschichte klingt glaubwürdig, Arnolds Handkamera kommt kaum hinter dem Mädchen her. Aber Mia hat auch ihre zarten Seiten, und man spürt in manchen Szenen, dass Jarvis selbst sich nicht immer so recht im Klaren darüber ist, wohin sie mit ihren Gefühlen eigentlich soll. Diese Unsicherheit macht ihr Spiel so roh und verletzlich.
Arnold erspart Mia den tiefen Fall, verwehrt ihr aber auch die ersehnte Rettung. Am Ende ist das weiße Pferd tot. Märchen sehen anders aus.
Ab 23.09. in den deutschen Kinos: "Fish Tank". Regie: Andrea Arnold. Mit Katie Jarvis, Michael Fassbender u.a., Großbritannien 2009, 122 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern