Britischer Felsklotz in der Wasserwüste

Viermal im Jahr nähert sich das Postschiff der Pitcairn Island im Südpazifik, um den Ururenkeln der Meuterer von der Bounty Briefe und britischen Beamtensold zu bringen  ■ Von Ulli Kulke

Käpten William Bligh hat sich mit tödlicher Sicherheit im Grabe umgedreht. Da ist er mit 18 Getreuen in einer winzigen, offenen Schaluppe 7.000 Kilometer durch den Pazifik geschippert, hat sich von Menschenfressern jagen lassen, ist tausend Durst- und Hungertode gestorben – nur um diejenigen, die ihn auf offener See ausgesetzt hatten, an den Galgen zu bringen: die Meuterer von der Bounty. Und was passiert jetzt? Die englische Queen Elizabeth II., Nachfolgerin seines Königs Georg, hat die Frechheit, den 200. Jahrestag des Aufstands mit einem Glückwunschtelegramm zu heiligen. An wen?

Drehen wir den Globus um 180 Grad und schauen in die Gegend zwischen Tahiti und dere Osterinsel. Bisweilen ist eine Insel namens Pitcairn verzeichnet – eigentlich ein Witz, denn es handelt sich nur um einen steil aufragenden Felsklotz mit einer Grundfläche von viereinhalb Quadratkilometern. Hier hatten sich 1790 die Meuterer versteckt und wurden fortan nicht mehr gefunden – obwohl man rund um die Welt im verzweigten britischen Kolonialreich nach ihnen fandete. Deshalb erfüllte sich auch der sehnlichste Wunsch des Käpten Bligh nicht, den Obermeuterer Fletcher Christian hoch oben an der Raa eines Segelschiffes hängen zu sehen. Fletcher ist tot, es lebe Tom Christian, sein Urenkel. Er geht heute hoch oben auf dem Fels seinem Geschäft nach: Funker auf Kurzwelle mit der Kennung VR 6 TC. Tom ist der Außenkontakt der 50 Menschen, die heute auf Pitcairn leben. Fast alle sind sie direkte Nachfahren der Meuterer.

Die Gesellschaft der Ururenkel ist zweifellos die bizarrste Inselgemeinde der Welt: mangels Verkehrsverbindungen fast unerreichbar, aber doch englisch sprechende, europäisch denkende Menschen wie du und ich, versehen mit – fast – allen Segnungen der Technik. Videogerät, Geschirrspüler und Mixer werden vom Generator angetrieben. Einen Flughafen gibt es nicht, noch nicht mal einen Hafen. Alle drei Monate hält das Postschiff auf halber Strecke zwischen Auckland/ Neuseeland und Panama drei Meilen vor der Küste – aber nur bei schönem Wetter. Besucher kommen äußerst selten. Und eigene Schiffe, mit denen sie über den Ozean fahren könnten, besitzen die Insulaner nicht. Vor zwei Jahren nun feierten sie den 200. Jahrestag der Landung von „HMS Bounty“ (Her Majesty's Ship) unter der Flagge der Meuterer – Anlaß für das Telegramm der Queen. Flugs eingerahmt, hängt es nun im Gerichtssaal von Adamstown, der seit Jahrzehnten nur noch zum Barbecue genutzt wird.

Pitcairn ist seit 1838 englische Kolonie. Höchstes gesetzgebendes Organ der Insel ist der gewählte Inselrat, der seine Entscheidungen freilich mit dem britischen Hochkommissar in Neuseeland abstimmt. Höchste Repräsentantin ist – die Queen. Eine Befreiungsbewegung hat es nie gegeben – die Gründung einer solchen hätte auch keine Chance. Schließlich beziehen die Insulaner einige Vorteile aus dem fernen London. So bringt das Postschiff Materialien für den Bau ihrer stattlichen Häuser – die Hälfte der Kosten trägt der britische Steuerzahler. Außerdem hat jeder Pitcairner ein bis zwei Beamtenjobs, die ihm geringen, aber regelmäßigen Lohn einbringen. Der Pfarrer führt den coop-Laden, der Schullehrer ist gleichzeitig Herausgeber der Zeitung Pitcairn Miscellany und „Regierungsberater“, der Bürgermeister ist Postschaffner, seine Frau und Postassistentin arbeitet als zweite Funkerin in Toms Kurzwellenbude. Doch von Doppel- oder Dreifachbelastung kann keine Rede sein. Der coop-Laden ist gerade zweimal in der Woche eine Stunde geöffnet, das Postamt ebenso – bei der Frequenz des Postschiffs ist das schon viel. Und auch der Bürgermeister wird nicht von Terminnot geplagt.

Bei den „Regierungsjobs“ handelt es sich nur um eine zusätzliche Quelle von Wohlstand. Zum Leben haben die Pitcairner genug in ihren Gärten. Von Ananas bis Zucchini wächst auf dem tropischen Boden alles, was der Gaumen begehrt. Ansonsten fahren sie mit ihren Booten zu allen Dampfern, die vor der Insel einen Stop- over machen, und verkaufen kunstvoll geschnitzte Bounty- Schiffe oder Briefmarken, die zu den begehrtesten der Welt gehören. Im übrigen haben die Pitcairner vor allem eines: viel Zeit.

Die Ergebnisse des Inselsports Angeln und Fischen werden hier veröffentlicht wie andernorts die Fußballresultate. Die vierseitige Pitcairn Miscellany hat zwei feste Rubriken: der Shipping Report führt alle Schiffsannäherungen mit Datum auf, meist steht passed dahinter, vorbeigefahren. Der Fishing Report verzeichnet minutiös die Zahl der gefangenen Fische. Fürs Zählen ist Miss Catfish verantwortlich. Ihre Erhebung vom Juni 1992: Vom Felsen geangelt 723, vom Boot 419, drei Thunfische, kein Hai. Sie gesteht freilich, daß sie schon mal schätzt, wenn sie ihre Zeit noch besser nutzen konnte als zum Fischezählen.