Brief an die SPD: Ich will die Scheidung!
Ich wuchs in Liebe zur SPD auf, daraus machte ich nie einen Hehl. Doch wer nur zuschaut, wenn ich beleidigt werde, der soll sich seine Stimmen künftig anderswo holen.
Liebe Andrea,
ich weiß, du hast schon einen Brief bekommen. Sergey Lagodinsky hat dir geschrieben, warum er euch verlässt. Der Gründer des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten kann nicht mehr in deiner Partei aktiv sein, „die sich aus Angst vor dem Stammtisch einem Sarrazin nicht stellen will“.
Auch ich habe lange mit mir gerungen und dachte, ich könnte mit diesem Mann in meiner Partei leben. Ich könnte es ertragen, dass er die sozialdemokratischen Ideale verrät und dennoch bleiben darf. „Für die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller Menschen – unabhängig von Herkunft und Geschlecht, frei von Armut, Ausbeutung und Angst“, heißt es im SPD-Parteiprogramm. Was Sarrazins biologistische Thesen mit diesen Gedanken gemein haben sollen, liebe Andrea, das kannst du nicht erklären. Aber ich kann es: nichts.
Schon bevor ich denken konnte, war ich sozialdemokratisch. Geboren in Herne kam ich quasi als Sozialdemokratin auf die Welt. Meine Eltern sind Arbeiter, wir lebten im Ruhrgebiet – natürlich wählten sie SPD, weil sie felsenfest glaubten, dass diese Partei sich immer für sie einsetzen würde. Ich wurde in Liebe zur SPD erzogen, einem Gefühl, das keine Argumente braucht. Es ist also keine Vernunftehe, die hier geschieden wird.
Mein erster Freund war CDU-Wähler. Wenn wir uns stritten, dann nur deswegen. Mein nächster Freund wählte die Linke, und auch er machte mir meine SPD zum Vorwurf. Es sei eine neoliberale Partei, die Hartz IV durchgewunken habe. Wie ich als Linke die wählen könnte? Ich fand immer Argumente, und wenn nicht, dann wiederholte ich stur die wenigen, die ich hatte.
Sarrazin habe ich zunächst ausgehalten. Denn Quer- und Nichtdenker muss man hinnehmen können. Aber mir war von Anfang an klar, dass es hier nicht um Meinungsfreiheit geht. Mir und meinen Eltern wird von Sarrazin in einem Bestseller der Respekt abgesprochen. Dabei habe ich mich nie als „multikulti-verblendet“ betrachtet. Probleme bei Fragen der Einwanderung zu thematisieren ist mir ein Anliegen. Und wer mich fragt, wo ich stehe, dem werde ich „links-konservativ“ antworten. Doch meine Zuneigung zur SPD bröckelt.
Salonfähiger Gedankenmüll
Am Sonntag musste ich mir auf dem bekanntesten Trödelmarkt im als alternativ geltenden Bezirk Prenzlauer Berg anhören, es gebe schon zu viele „Neger“ dort. Kurz davor gratulierte mir ein behandelnder Arzt mal eben dazu, wie gut ich doch integriert sei und wie glücklich ich doch deswegen sein sollte. Rassistischen Unsinn sind wir dunkelhäutige Menschen gewohnt, doch seit Sarrazin häufen sich die verbalen Attacken – endlich kann man ja sagen, was man schon immer sagen wollte. Wer sich vorher nicht traute, hat nun den Bestsellerautor hinter sich. Der Sozialdemokrat hat seinen Gedankenmüll salonfähig gemacht – und was mir passiert, passiert vielen Menschen in diesem Land täglich.
Ich war niemals Parteimitglied, als Journalistin ging mir das dann doch zu weit. Aber aus meiner Liebe habe ich dennoch nie ein Geheimnis gemacht. Meine Beweggründe für die Scheidung sind sehr persönlich und meinetwegen politisch irrational – doch gibt es etwas Persönlicheres als Liebe? Jetzt muss ich mich der Vernunft beugen.
Wie soll ich eine Partei wählen, die nur zuschaut, wenn mich eines ihrer prominentesten Mitglieder aus genetischen Gründen öffentlich für dümmer erklärt als die weiße Mittelschicht? Der mich und meine Familie am liebsten nicht im Lande hätte? Hofft sie auf die Stimmen der Rechten? Meine ist sie jedenfalls los.
Seinem Buch hatte Sarrazin ein Zitat des SPD-Gründervaters Ferdinand Lassalle vorangestellt: „Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“ Ein Zitat, das den Zustand seiner Partei bestens beschreibt. Deswegen, liebe Andrea, kann ich euch nicht mehr wählen.
*Der Name der Autorin ist der Redaktion bekannt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren