Bremer Landesrabbiner über Konvertiten: „Wir lehnen viele ab“
Der Bremer Landesrabbiner Netanel Teitelbaum hat ein Programm entwickelt, das es Konversionskandidat*innen erleichtert, zum Judentum überzutreten.
taz: Herr Teitelbaum, wie schwierig ist es, Jude zu werden?
In meiner Zeit als Vorsitzender der orthodoxen Rabbinerkonferenz habe ich im Jahr durchschnittlich 600 bis 900 Briefe bekommen von Menschen, die konvertieren wollten. 80 Prozent davon wurden abgelehnt, beziehungsweise: Die meisten haben dann selbst entschieden, dass sie es doch nicht machen.
Warum?
Manche denken, es sei eine einfache Entscheidung, ein Jude zu sein. Ein Jude zu sein, das bedeutet auch, als Jude zu leben. Wenn jemand die Entscheidung getroffen hat, ich möchte Jude sein, dann muss er verstehen, was auf ihn zukommt: Und das bedeutet, er muss sein Leben umstellen. Das ist nicht so einfach. Nicht nur, was den Glauben betrifft, sondern auch, was das Essen betrifft, was die Kleidung betrifft, was das Wochenende betrifft. Nicht jeder kann das machen. Und ich frage zuerst: Warum willst du Jude sein?
Was sind denn die häufigsten Gründe für den Wunsch zu konvertieren?
Shimon Netanel Teitelbaum, 43, ist seit 2010 Landesrabbiner in der Jüdischen Gemeinde in Bremen. Er wurde in Kirjat Motzkin, Israel, geboren, und diente von 1998 bis 2000 als Sanitäter einer Militäreinheit an der Grenze zum Südlibanon. Teitelbaum ist Mitbegründer und war von 2004 bis 2008 auch Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD).
Die häufigste Antwort, die ich kriege, ist: Wegen des Schicksals des jüdischen Volkes hier in Deutschland. Da sage ich: Das ist kein Grund, Jude zu sein. Du musst nicht deswegen Jude werden. Ich schätze das sehr, aber ich sage: Du kannst das jüdische Volk und die jüdische Gemeinde auch so unterstützen. Andere sagen: Weil die Juden besser sind. Das ist auch keine Antwort. Niemand fängt den langen Weg der Konversion wegen dieser Antwort an. Viele sagen auch: Wir sehen, was aktuell mit Minderheiten geschieht – aber das ist auch kein Grund: Du kannst auch Muslim sein, oder Christ, warum jetzt Jude? Und was hat das überhaupt mit Religion zu tun? Deswegen wird man viele solcher Antworten ablehnen.
Und wann sagen Sie ja?
Wenn jemand sagt: Ich beobachte das Judentum schon viele Jahre und ich denke, das ist für mich die richtige Religion und ich möchte das so leben, dann sage ich: Du kannst als Jude leben, ohne Jude zu sein. Du kannst alle 613 Gebote halten. Wenn er dann weiter sagt, ich möchte aber Teil davon sein, dann kann er damit anfangen. Das Judentum ist gegen Missionierung. Von den 600 bis 900 Anfragen haben wir schließlich nur mit 50 oder 60 anfangen können. Und zwar nicht, weil wir gegen Konversion sind, aber man muss es schon richtig wollen.
Wie geht der Weg dann weiter?
Der Kandidat ist normalerweise ziemlich alleine in diesem Prozess. Er hat mit einem Rabbiner geredet und der hat vielleicht gesagt: „Hör mal, ich bin kein Lehrer, aber du kannst gerne in die Synagoge kommen und ich rede mit dir über alles.“ So kann man es machen. Aber dann, nach drei, vier Jahren, kommt er vor das Beth Din, also das zuständige rabbinische Gericht, und ist nicht wirklich vorbereitet. Er ist eine fromme Person, aber was bedeutet fromm: Er hält den Schabbat, wie er es kennt. Er hält das Gebet, wie er es kennt. Aber dann fängt man im Beth Din an, ihm verschiedene Fragen zu stellen, die er einfach nicht gelernt hat. Er weiß nicht genau, was man studieren muss, und dann muss er wieder ein halbes Jahr warten, weil das Beth Din nicht vor Ort ist. Das ist sehr unbefriedigend.
Sie haben stattdessen ein neues Programm entwickelt.
Ja. Was wir jetzt anbieten, ist ein Lehrgang, in dem wir die Kandidaten für das Beth Din vorbereiten. Dieses Programm haben wir gemeinsam mit der israelischen Organisation „Ami“ gegründet. Erst durch die Zustimmung des Präsidiums der Jüdischen Gemeinde im Lande Bremen sind wir dazu gekommen, all das zu entwickeln. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken.
„Ami“ ist in Israel zuständig für die Vorbereitung aufs Beth Din. Was ist das für ein Lehrgang?
Das ist ein Programm aus insgesamt neun Kursen mit verschiedenen Themen: Der Alltag einer jüdischen Familie, die Feiertage, die mündliche Lehre, die Thora und so weiter. Dieses Programm bietet die Jüdische Gemeinde Bremen offiziell an.
Wie funktioniert das praktisch?
Zuerst treffen wir diese Menschen, um zu sehen, ob sie auch wirklich dazu bereit sind. Denn Jude zu werden, das ist eine Veränderung des gesamten Lebens. Es bedeutet nicht nur, eine Religion anzunehmen, sondern es auch richtig zu praktizieren. Wenn wir dann wissen, welche Kandidaten wir haben, dann läuft das über die Gemeinde. Der Kandidat muss sich anmelden für jeden Kurs, das läuft über die Verwaltung, und es gibt auch einen symbolischen Beitrag. Wir haben uns dabei an den Kosten der Volkshochschule orientiert. Das Programm wird finanziell durch die zionistische Organisation „Over the rainbow“ unterstützt.
Wie betreuen Sie die Kandidaten?
Die Kandidaten müssen an diesen neun Kursen teilnehmen. Wir bieten Bücher für den Lehrer, die Schüler und eine Lernplattform im Internet an. Parallel dazu treffen sie sich mit mir oder auch mit Rabbiner David Ben-Nissan aus Israel und Rabbiner Menahem Klein, mit denen ich das Projekt entwickelt habe. Und am Ende dieser neun Kurse bringen wir die Kandidaten vor ein Beth Din in Jerusalem. Bis jetzt haben alle unsere Kandidaten bestanden.
Steht das Programm nur BremerInnen offen?
Wir bekommen zunehmend auch Anfragen aus anderen Gemeinden und sind natürlich bereit zu helfen – auf der Basis, dass der lokale Rabbiner oder der religiöse Beauftragte in jener Gemeinde einverstanden ist und das unterstützt.
Ein großes Problem bei Konversionen ist es, dass sie oft in Israel nicht anerkannt werden. Ihre aber schon. Wie haben Sie das geschafft?
Das Lehrprogramm anerkennen zu lassen, war sehr einfach. Ich komme aus Israel, ich komme vom Oberrabbinat, und das Oberrabbinat kann es nur begrüßen, dass so ein Lehrprogramm zustande kommt. In Israel läuft es genau so, aber hier in Europa gab es bislang leider kein festes Programm. Sie können es also nur begrüßen, dass die Kandidaten gut vorbereitet zum Beth Din kommen. Dort mischen wir uns dann nicht ein, wir sind spezialisiert für das Lehrprogramm.
Wie lange dauert das alles?
Es ist immer die Frage, wer was braucht. Unser Lehrgang dauert ungefähr ein Jahr netto. Dazwischen sind Feiertage und Schulferien, also zwischen 13 und 15 Monate dauert es, bis jemand für das Beth Din vorbereitet ist. Manche kommen auch zu uns und wissen schon sehr viel. Die brauchen dann auch nicht das ganze Programm zu absolvieren.
Warum gehen Sie mit Ihren Kandidaten vor ein Beth Din in Israel?
Ich mache das, um auch eine nationale Identität zu stiften. Ich sehe in diesem Bereich leider in den letzten Jahren hier in Deutschland eine große Lücke. Aber wir suchen für jeden Kandidaten eine passende Lösung, auch vor Ort.
Auf der European Rabbis Conference in Bukarest vor wenigen Wochen wurde Bremen als die Zentrale für Gijur-Prozesse in ganz Europa genannt.
Ja, da war ich auch überrascht! Es muss zwar keiner unbedingt aus England nach Deutschland kommen, um diesen Prozess zu Ende zu führen, sondern nur, wenn er Hilfe braucht. Aber was er bestimmt braucht, ist dieses Lehrprogramm, um sich sicher als Kandidat vorzubereiten.
Sie haben damit etwas völlig Neues geschaffen.
Ja, dieses Produkt, also das Lehrmaterial und der ganze Prozess, ist etwas Neues. Und das gute an dem Programm ist: Jeder kann es aufnehmen. Die Idee ist, dass das Programm jedem Ortsrabbiner zur Verfügung steht, unabhängig davon, ob er Mitglied in einer bestimmten Konferenz ist oder nicht. Es steht auch Gemeinden zur Verfügung, die nicht unbedingt Mitglied in einer bestimmten Organisation sind, sie müssen nur den orthodoxen Weg gehen. Wir gehen weg von der Instanz der Behörde, der Konferenz, hin zu den Gemeinden.
Was ist der größte Vorteil an Ihrem Programm?
Wir haben das Konvertieren nicht neu erfunden, das gibt es schon jahrtausendelang. Ich muss aber auch ehrlich sagen, wir suchen keine neuen „Kunden“, wenn ich das so ausdrücken darf. Wenn aber jemand wirklich tief davon überzeugt ist, dann gibt es jetzt einen bestimmten Prozess, wie so eine Konversion ablaufen muss. Ich denke, das ist das erste Mal, dass die jüdischen „Behörden“ in Deutschland sagen können: Wenn jemand den Wunsch hat, so einen Gijur-Prozess zu durchlaufen, dann gibt es eine Ordnung dafür. Man weiß, was zu tun ist. Wir sagen: Du möchtest Jude sein? Dann ist das Lehrprogramm das, was du dafür tun musst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“