: Brav mitarbeiten statt hinterfragen
betr.: „Müller für Manieren“, Kurzmeldung in der taz vom 12. 4. 05
Jeder Unterricht ist auch Benimmunterricht. Saarlands Ministerpräsident Peter Müller scheint sich nicht damit auseinander gesetzt zu haben, dass die Vermittlung von allen Inhalten in Schulen dadurch erreicht wird, dass die Lernenden diszipliniert werden. In jedem Unterrichtsfach gibt es explizite und dazu noch viel mehr implizierte Regeln; Regeln darüber, wie sich die Lernenden zu verhalten haben. Im Normalfall wissen die SchülerInnen genau, wie sie sich verhalten müssen, wenn sie wollen, dass die Lehrenden ihnen gegenüber wohlwollend sind. Die Vermittlung von traditionellen Werten (Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Akzeptanz von Hierarchien, Egoismus) wird in der normalen deutschen Schule mehr als genügend sichergestellt. Benimmunterricht, so wie ihn Müller sich wohl wünscht, ist also überflüssig.
Die wiederholte Forderung nach Benimmunterricht scheint mir ein Indikator dafür zu sein, dass es in unserer Gesellschaft durchaus eine Menge Leute gibt, die sich mehr Kontinuität und weniger Problematisierung wünschen: Die Erwachsenen von morgen sollen brav mitarbeiten, ohne Ziele und Methoden zu hinterfragen. Benimmunterricht hat zum Ziel, die Lernenden mit der Gesellschaftsvorstellung von gestern zu indoktrinieren. Diejenigen Generationen, die zukünftige Entscheidungen treffen werden, sollen nicht mehr Werte hinterfragen, sondern sie einfach so hinnehmen.
Wohin solch eine eindimensionale Sozialisierung führen kann, sehe ich am Extrem der Achtung vom Gründer der Türkischen Republik innerhalb der Türkei. Es ist sehr schwierig, mit irgendjemand kritisch über Atatürk zu diskutieren, weil alle fleißig in allen Schulstufen gelernt haben, dass Atatürk der Tollste ist. Ordnungsliebende Menschen hinterfragen solch eine Indoktrination nicht.
Wenn wir uns eine Gesellschaft wünschen, in der die Menschen kritisch mitdenken, dann sollte anstatt von Benimmunterricht eher das Hinterfragen von gesellschaftlichen Normen und Ritualen in die Schulen integriert werden. Der Idee, dass Kinder noch mehr mit konservierenden Werten beschult werden, sollte mit der Idee einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft mit selbständigen Menschen begegnet werden. INGMAR LIPPERT, Istanbul, Türkei