Boykott jüdischer Geschäfte im NS-Regime: Verraten und verkauft
Moderner Antisemitismus hat verschiedene Ursachen und folgt bestimmten Mechanismen – es wird nicht mehr religiös argumentiert. Welche sind das und wie wirken sie?
"Die Fremdheit der Juden scheint die handlichste Form zu sein, mit der Entfremdung der Gesellschaft fertigzuwerden."
Theodor W. Adorno
Dr. Hannah Ahlheim ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Göttingen. Sie ging in Marburg/Lahn zur Schule, machte 1997 Abitur und studierte 1997-2002 in Berlin. Ihre Dissertation zum Thema "Deutsche, kauft nicht bei Juden. Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935" (ausgezeichnet mit dem "Fraenkel Prize in Contemporary History" 2009), schloss sie 2008 an der Ruhr-Universität Bochum ab. In Planung ist ein Buch über Schlaf und Ökonomie (Habilitationsprojekt). Frau Ahlheim wurde 1978 in Frankfurt am Main geboren, als Kind von 68er Eltern, die sie überaus schätzt. Der Vater ist Professor für Erziehungswissenschaften und politische Bildung, die Mutter ist analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin.
Wir leben in Zeiten, in denen eine rassistisch motivierte Mordserie junger Neonazis in den Medien in aller Unbefangenheit mit der rassistischen Wortschöpfung "Döner-Morde" bezeichnet wird. In denen ein SPD-Mitglied ungehindert und folgenlos biologistische und rassistische Thesen verbreiten kann und sich öffentlich über Rassemerkmale, Erbanlagen und ökonomische Nützlichkeit von türkischen und arabischen Migranten äußern darf: "Es ist nämlich zu befürchten, dass sie zur überdurchschnittlichen Vermehrung jener bildungsfernen und von Transfers abhängigen Unterschicht beitragen, welche die Entwicklungsaussichten Deutschlands verdüstert." ("Deutschland schafft sich ab", S. 59) Und: "Wenn sich der Trend fortsetzt, dass die weniger Intelligenten mehr Kinder bekommen, dann sinkt die durchschnittliche genotypische Intelligenz, also der erbliche Anteil der Intelligenz in der Bevölkerung." (Aus dem österreichischen Kurier, 24. 9. 2011).
Der drohende Tonfall schlägt zugleich scharfe bevölkerungspolitische Maßnahmen vor und hat rhetorisch bereits eine ausbürgernde Funktion. Sie macht die Migranten zu Fremden, die hier nichts zu suchen haben. Am 20. Januar sagte der noch amtierende Bundespräsident in seiner Rede zum 70. Jahrestag der Wannsee-Konferenz in der Wannseevilla salbungsvoll: "Wir werden alles tun, damit Terror und mörderischer Hass auf Fremde und Fremdes in Deutschland nie mehr Platz haben." Ihm fiel gar nicht auf, dass die jüdischen Mitbürger gar keine "Fremden" waren, sondern erst dazu gemacht wurden.
Genau darauf richtet Hannah Ahlheim ihr kritisches Augenmerk. Sie besuchte uns Anfang Januar und erzählte uns von ihren Untersuchungen.
"Ich habe Boykottaktionen gegen jüdische Gewerbetreibende und jüdische Geschäfte in den 20er und 30er Jahren untersucht. Sie waren ein wichtiges Mittel antisemitischer Propaganda. Die Boykottaufrufe trugen als Allererstes dazu bei, die Unterscheidung von ,deutsch' und ,jüdisch' im Alltag zu etablieren und ihr formuliertes Ziel war der dauerhafte Ausschluss von Menschen aus der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft, aufgrund ihres angeblichen Andersseins, ihres Judentums.
Die Akten des Centralvereins
Es kam mir auch darauf an, diese Zäsur von 1933 aufzulösen und zu schauen, welche Tradition antisemitischer Praktiken es auch schon in der Weimarer Zeit gegeben hat. Es gab zwar in vielen Fällen eine Rechtssprechung gegen diese Praktiken, aber der Glaube an die Rechtssicherheit für Juden, so der Centralverein, brach ja bereits in den 20er Jahren zusammen. Der erste große antisemitische Boykott war dann am 1. April 1933. Ich habe mir Flugblätter, Pamphlete, Karikaturen, programmatische Schriften und Berichte antisemitischer und nationalsozialistischer Herkunft angeschaut. Und ich hatte das Glück, diese verloren geglaubten Quellen zu finden, die Akten des ,Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens' im Archiv in Jerusalem. (Der Centralverein, der 1893 in Berlin gegründet wurde, wurde 1938 verboten. Anm. G. G.)
Der CV - die größte jüdische Organisation Deutschlands - hatte seit Mitte der 20er Jahre Berichte und Material gesammelt über Boykottaktionen, Prozessakten, Gerichtsurteile, und es finden sich auch sehr viele Berichte und Geschichten, die Alltagssituationen schildern und die Perspektive der Betroffenen sehr deutlich zur Geltung kommen lassen. Da wurde mir klar, dass man die Wirkung der Boykottaktionen nicht nur daran bemessen kann, ob die Geschäfte Verluste machten und wie groß der wirtschaftliche Schaden war, sondern die Wirkung darüber nachvollziehen muss, wie die Betroffenen das wahrnehmen.
Die antisemitische Aktion hatte als erstes Ziel, ,den Juden' zu definieren, ihn zu personifizieren, vermeintlich erkennbar zu machen, in der Nachbarschaft zu ,entlarven', zu kennzeichnen. Mit den Boykotten wurde ja nicht nur eine Trennlinie zwischen ,Deutschen' und ,Juden' gezogen, sondern sie zerstörten auch nachbarschaftliche Strukturen. Es verändert sich ganz massiv was am Klima durch diese Fremdwahrnehmung. Besonders in der Selbstwahrnehmung der Betroffenen.
Es ist ja ein großer Unterschied, ob man sich als Jude fühlt, oder ob man aggressiv als Jude wahrgenommen wird. Man ist nicht mehr unbefangen. Das wird sehr deutlich in den Selbstdarstellungen: diese unglaublichen Schwierigkeiten, sich selbst zu definieren, jenseits von antisemitischen Zuschreibungen. Das fand ich auch sehr frappierend in diesen Dokumenten. Das antisemitische Vorurteil ist schon sehr alt, grade auch im Wirtschaftsbereich. Da änderte sich aber im 19. Jahrhundert natürlich noch mal was. Seit 1871 gab es die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden. Und es hatte sich ein neues Wirtschaftssystem etablierte, wo es dann auch um Finanzmarkt geht, um Börsen geht, um eine neue Wahrnehmung von Strukturen und Abhängigkeiten, die nicht mehr durchschaubar schienen.
Moderne und Antisemitismus
Ein ,moderner Antisemitismus' entsteht, der eben nicht mehr vor allem religiös motiviert ist. Es ändert sich die antisemitische Wahrnehmung von Juden entscheidend, denn das antisemitische Vorurteil verknüpft sich jetzt mit dem, was Moderne ist, was Kapitalismus ist. Bereits in den 1870er/1880er Jahren, mit den ökonomischen Krisen, gab es erste Boykottaktionen gegen Juden.
,Die soziale Frage ist die Judenfrage', so beschrieb Glauchau den angeblichen Ursprung der Krise. Er war ein antisemitischer Journalist und Schriftsteller, der vor allem über den ,Gründungs- und Werbeschwindel' geschrieben hat, also über die Luftblase der Finanzmärkte Ende des 19. Jahrhunderts. (Durch die er angeblich große Teile seines Vermögens verlor. Anm. G. G.)
Er prägte 1874 den Begriff des ,raffenden Juden'. Gegenübergestellt hat er ihm den ,schaffenden Arier', der die gute und rechtschaffene ,deutsche Arbeit' verrichtet. Dieses Begriffspaar ,raffend' und ,schaffend' blieb von da an ein Hauptbestandteil antisemitischen Denkens und antisemitischer Propaganda.
Aber auch Schriften wie Sombarts 1911 erschienener Text ,Die Juden und das Wirtschaftsleben' haben das Bild von ,den Juden' nachhaltig geprägt. Die Stereotypen vom jüdischen Bankier oder Unternehmer wirken ja auch besonders deshalb scheinbar überzeugend, weil sie ein Körnchen Wahrheit enthalten, eben dadurch, dass es so ist, dass die jüdische Minderheit aus nachvollziehbaren Gründen in bestimmten Berufen aktiv war. Daraus eine besondere Affinität zum Geld abzuleiten, oder gar die Entstehung des Kapitalismus, ist abwegig.
Verfälschte Erfahrung
,Nicht die Erfahrung schafft den Begriff des Juden', sagte Sartre, ,sondern das Vorurteil fälscht die Erfahrung.' Die Wirkungsmacht des antisemitischen Vorurteils ist auch deshalb so stark, weil es eine einfache Erklärung für das Unbehagen liefert. Das Gefühl, ausgebeutet zu werden, vermarktet mit seiner Arbeitskraft, und dagegen machtlos zu sein, das ist ja ein sehr reales Gefühl, das besonders in den 20er Jahren so deutlich wie vorher noch nie wurde. Das sind reale Ängste und reale Aggressionen, die die Leute hatten.
Nur, dass das Ganze dann auf einen imaginären Feind projiziert wird, der aufgrund seines raffgierigen Wesens schuld daran ist, und zwar schuld an allem: schuld an Armut, Arbeitslosigkeit, am Verfall der kulturellen Werte, an der Weltpolitik. Das Schema einer ,quasi natürlichen Unverbesserlichkeit', so nennt es Theodor W. Adorno, sei für den Antisemiten weitaus wichtiger als der Inhalt seiner Standardvorwürfe. In denen aber wird erst mal alles zusammengepackt und zu einer Vorurteilsfantasie ausgemalt.
Es gibt eine Karikatur, die zeigt einen Kopf mit drei Gesichtern, dem eines Ostjuden, eines Politikers und eines Börsianers. Das alles, wird suggeriert, ist ,der Jude'. Und er ist darüber hinaus nicht nur Bonze, sondern auch Kommunist. Auch alles, was sozialdemokratisch ist, zum Beispiel Konsumgenossenschaften, oder auch andere Entwürfe, wurde sofort als ,jüdisch' gestempelt. Auch die Revolutionäre der Novemberrevolution von 1918/19, das waren für die Antisemiten alles ,jüdische Sozialisten'. Rosa Luxemburg ohnehin, und daraus konstruierte man ,schlagende' Beweise dafür, dass das keine Revolution ist, die dem deutschen Nationalismus guttut.
Es geht immer ums Deutsche, das bedroht ist und gehindert wird, so zu sein, wie es von Natur aus angeblich ist, was versklavt wird, vom Young-Plan, von den Industriemagnaten, von internationalen Finanzkonglomeraten. Aber nicht gegen das Konkrete, die Industriemagnaten, das Industriekapital soll sich das Volk oder die Volksgemeinschaft auflehnen, sondern gegen das undurchschaubare, als jüdisch personifizierte Finanzkapital.
Der Historiker Moishe Postone erklärt es ganz klassisch marxistisch. Beim Geld, da geht es natürlich um den Fetischcharakter der Ware, und der Jude scheint genau dazu zu passen. Abstrakte Fantasie, in der sich alles Konkrete auflöst. Unter dieser Konstruktion verschwanden dann die wahren Herrschaftsverhältnisse von der Bildfläche.
Nun will ich auf die Formen des Boykotts kommen, der, das muss ich vorausschicken, ursprünglich ein probates und ehrenwertes Mittel gegen ein Unrecht war. Der Begriff ,Boykott' stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts, vom Arbeitskampf ausgebeuteter irischer Landarbeiter gegen ihren grausamen Gutsverwalter namens Boycott.
Zusammen mit den Pächtern, haben sie ihn über Monate hinweg wirtschaftlich und gesellschaftlich isoliert. In den USA und auch in Europa wurde der Boykott ein verbreitetes und in Teilen auch rechtlich anerkanntes Mittel im Arbeitskampf. 1894 gab es in Berlin einen acht Monate dauernden Bierboykott: Unter anderem ging es um die Einführung des 1. Mai als Ruhetag. Erinnern möchte ich auch an den Montgomery-Busboykott 1955/56, angeführt von Martin Luther King, ausgelöst durch eine schwarze Frau, die sich auf einen Sitzplatz nur für Weiße gesetzt hatte, das war der Beginn der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.
Das gute Ansehen dieses Kampfmittels im 19. Jahrhundert jedenfalls haben sich die antisemitischen Gruppen dann in den 20er Jahren zunutze gemacht, voran die lokalen und wirtschaftlichen Verbände der NSDAP, um mit Boykotten ihre Partei und ihre Ideologie zu bewerben. Sie missbrauchten ihn als rassistische Ausgrenzungsstrategie und als Instrument der Stigmatisierung.
Als dann nach 1933 der ausgefeilte Propagandaapparat etabliert war, wurden die Boykottaktionen anschlussfähig an die Ressentiments in der Bevölkerung gemacht. Gleich 1933 gab es einen reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte, durchgeführt durch die ,Aktionskomitees' der Ortsgruppen.
Wir haben zahlreiche Fotografien dieser und von späteren Aktionen gesehen, die sich alle gleichen. Die meisten Leute haben diese Bilder vor Augen, auf denen ein bis zwei SA-Männer in Uniform martialisch vor Geschäften stehen und irgendwo steht zu lesen: ,Deutsche, kauft nicht bei Juden'. Die Szenen sind menschenleer. Das ist spannend, denn es gibt sehr wohl andere Bilder von Boykotten, da sieht man Straßenszenen mit Schaulustigen und Passanten.
Der Boykott lebt von den Zuschauern
Charakteristisch für die Aktionen war ja gerade das Zusammenkommen von Menschenmengen, die sich vor den einzelnen Geschäften sammelten. Denn gerade diejenigen, die dabeistehen und gucken, die sind die Wichtigen - weil Boykott lebt eben davon, dass man zuguckt und nichts tut.
Boykott ruft ja nicht dazu auf, aktiv zu werden, sondern der sagt, tut etwas nicht, geht da nicht rein, kauft da nicht. Das ist eine Forderung, die ein Publikum natürlich sehr leicht erfüllen kann. Jeder in der Menge der Schaulustigen kennt bereits auch den Grund dafür.
Aber selbst wenn sie keine radikalen Antisemiten sind, sondern nur ,harmlose' Neugierige, so waren sie doch zugleich bedrohlich. Auch für die Käufer, die durch die Menschenmenge hindurch mussten. Und das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn ich glaube, dass man Antisemitismus in der Gesellschaft nicht versteht, wenn man nur die radikalen Antisemiten anschaut. Man muss auch das antisemitische Vorurteil, jenseits eines bewusst formulierten oder radikalen antisemitischen Weltbildes mit einbeziehen. Denn es reicht ja schon, diese Trennung mitzumachen. Zuzuschauen.
Die antisemitischen Aktivisten entwickelten Werbefeldzüge, die mit den Begriffen ,deutsch', ,jüdisch' und ,christlich' arbeiteten. Auch Listen jüdischer Geschäfte, Flugblätter, Plakate und Klebezettel wurden benutzt, um eine ,jüdische' beziehungsweise ,deutsche' Topografie in den Städten herzustellen. Es wurden die unterschiedlichsten Mittel eingesetzt, es werden Lautsprecheranlagen installiert, Marschmusik wird gespielt und dazwischen gibt es Aufrufe an die ,deutsche Hausfrau'. Und dann gab es solche Wagen, die durch die Stadt fuhren mit Musik und Transparenten drauf: ,Kauft nicht bei Juden'. Es hatte so ein wenig Volksfestcharakter.
Man muss sich die Szenerie vorstellen, besonders in einer kleinen Stadt, wo jeder jeden kennt und relativ klar ist, dass jeder, der einkaufen geht, das alles hört und sieht - und seinerseits gesehen wird.
In Angst lebten aber vor allem die jüdischen Geschäftsleute und ihre Angestellten. Ein Ehepaar zum Beispiel, das einen Zigarrenladen führte, wagte nicht, das Geschäft abends zu verlassen, da sie beschimpft wurden, als sie aus der Tür treten wollten. Ladeninhaber wurden zum Teil von den Schaulustigen bedroht, wenn sie die Bemalung auf ihren Schaufensterscheiben entfernen wollten.
Dennoch gab es anfangs noch immer Leute, die trotzdem bei jüdischen Kaufleuten einkauften. Im Sommer 1934 beginnt man mit deren Denunziation, 1935 ist dann der Höhepunkt der Disziplinierungsmaßnahmen gegen solche ,deutschen Volksgenossen'. Sie werden fotografiert beim Betreten der Geschäfte und die Fotos dieser ,Volksverräter' werden in den Zeitungen oder in den Schaukästen des Stürmers veröffentlich mit der Unterzeile: ,Hat bei Juden gekauft'.
Das trug natürlich auch dazu bei, die Aufrufe zu befolgen, schon um Konflikte zu vermeiden. Selbst bei den Akteuren der Boykotte gibt es unterschiedliche Motive oder Mischungen von Motiven. Es gibt die fanatischen Antisemiten, und es gibt Leute, die sind zwar in der SA oder den NSDAP-Ortsgruppen, zugleich sind sie aber auch Bürgermeister, Lehrer, Rechtsanwälte. Einzelne Geschäftsleute waren ebenso aktiv wie Nachbarn und ehemaligen Kunden.
Die enge Verbindung von Parteipolitik, lokaler Politik und individueller Interessenlage ist ein typisches Muster, das sich in vielen Boykotten wiederfindet. Oft waren die Verhältnisse kaum zu durchschauen, da verschiedene Interessen im Spiel waren.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Fall von Salomon Liebmann, der in Aschaffenburg die Firma M. Liebmann hatte, ein ,Häute-, Därme- und Metzgereibedarfsartikelgeschäft'. Er wurde 1934 Ziel einer antisemitischen Hetze, in die erstens der Bürgermeister eines anderen Örtchens, zweitens die Berufsgenossenschaft der Branche und drittens ein konkurrierender Metzger verwickelt waren. Der Metzger wurde von einigen Herren beauftragt, der Firma Liebmann Konkurrenz zu machen.
Konkurrenz ausschalten
Der Bürgermeister von Amorbach war einer dieser Herren. Er schickte ein Rundschreiben an alle Metzger der Gegend, mit der Aufforderung, von der Firma Liebmann nichts mehr zu kaufen und ihr nichts mehr zu liefern, andernfalls würden sie von den öffentlichen Lieferungen ausgeschlossen. Und in einer Sitzung der Häuteverwertungsgenossenschaft, in der fast alle Metzger organisiert waren, wurde verkündet, dass die Mitglieder der Genossenschaft keine Geschäfte mehr mit der Firma Liebmann machen dürfen. Durch solche Aktionen hat man jüdische Gewerbetreibende schnell in den Ruin getrieben. (Dieses Amorbach ist übrigens das von Theodor W. Adorno zeitlebens überaus geliebte Städtchen, in dem er die Ferien seiner Kindheit verbrachte. Anm. G. G.)
Hier gibt es einen direkten Hinweis auf die Ausschaltung eines Konkurrenten - das ist ja die These von Götz Aly - und sie spielte sicher auch eine wichtige Rolle, aber man kann es darauf nicht einengen. Es erklärt noch überhaupt nichts darüber, woher die antisemitischen Stereotype kommen, weshalb die antisemitischen Ressentiments einer zunächst kleinen Gruppe in nur wenigen Jahren eine so große Verbreitung finden und eine so zerstörerische Kraft entfalten konnten.
Aber zurück zu den Boykotten, wo es ja um die öffentliche Stigmatisierung ging. Ich wollte noch erzählen, dass es antisemitische Boykottaktionen gab, die nicht nur von organisierten Nationalsozialisten in Uniform, sondern auch aus der Gesellschaft heraus, ohne übergreifende Lenkung initiiert und organisiert worden sind. Es gab sozusagen hobbymäßige Privataktionen. In Berlin beispielsweise sind Leute, meist junge Männer, nachts als sogenannte Klebepatrouillen durch die Stadt gezogen mit ihrem Leimtopf und haben Zettel geklebt und Parolen geschrieben oder ,Jude' aufgemalt auf die jüdischen Geschäfte. Und das jede Nacht, immer wieder!
1935, im Juni/Juli, gab es organisiert auftretende antisemitische Ausschreitungen in Berlin. Zunächst am Kurfürstendamm, dann in Neukölln und Kreuzberg. Es ging gegen Konditoreien und Eisdielen, das ist heute relativ unbekannt. Und es waren keine SA-Leute, sondern männliche Jugendliche. Sie wurden teils auch gewalttätig gegen die Gäste, zerrten sie raus aus dem Geschäft, schlugen einem Kind die Eistüte aus der Hand, demolierten das Mobiliar und bedrohten die Besitzer.
Die Polizei hat ermittelt gegen unbekannt und diese Eisdielen wurden dann geschlossen, per Dekret, weil man ,für ihre Sicherheit nicht mehr garantieren konnte'. Und kaum durften sie wieder öffnen, ging der Terror von vorn los.
Pfarrer und Lehrer
Eine sehr verbreitete Methode des sozusagen indirekten Boykotts war, dass Autoritätspersonen wie Pfarrer oder Lehrer Druck ausübten. In Ostpreußen beispielsweise, da war ein Lehrer Braun aktiv, Obmann des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, der seinen Kollegen und seinen Schülern den Einkauf in jüdischen Geschäften ausdrücklich verboten hat und der erkundigte sich bei seinen Schülern auch regelmäßig danach, wo ihre Eltern einkaufen. Das war ein Lehrer von vielen.
Es gab speziellen Terror zu Weihnachten. Eine Geschichte aus Seddin, der Kaufmann hat rührende Briefe geschrieben an den CV. Er schrieb, ich kann gar nicht fassen, was mir passiert. Ich lebe seit Jahrzehnten mit meiner Familie hier und jetzt plötzlich das! Er hatte einen Weihnachtsbaum im Schaufenster und Glocken, wie sich das gehörte zu Weihnachten. Und da kam ein Kriminalkommissar und sagte: ,Das ist ein christliches Symbol, das hat hier nichts zu suchen!' Er sollte den Weihnachtsbaum entfernen.
Es nutzte dem Kaufmann auch nichts, dass er ein Schreiben vom Reichswirtschaftsministerium vorlegen konnte, in dem stand, Juden dürfen Weihnachtsbäume aufstellen. Es kam ein Trupp von 15 Männern, die riefen vor dem Geschäft: ,Wir fordern die Christenreklame vom Juden heraus!' Eine Menge von Schaulustigen bildete sich. Der Kriminalkommissar schritt noch mal ein und sagte: ,Wenn sie sich hier nicht weiteren Gefahren aussetzen wollen, räumen sie den Baum weg!' Der Kaufmann benutzte dann auf Rat des CV Watte als Schnee und solche jahreszeitlichen Dinge. Es gab viele ähnliche Vorfälle überall.
Man kann sagen, das ist eine lange Zeit, 1933 bis 1938, bis zur endgültigen ,Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben'. Viele sind ja zwischen 1933 und 1935 emigriert. Für die, die dablieben, war es ein langsames Absinken in immer schlechtere Verhältnisse. Viele nahmen das nicht einfach so hin, das zeigen die Dokumente, sie haben sich gewehrt gegen die Diskriminierung, mit Anzeigen und Eingaben, meist vergeblich.
Diese ,gesetzlose' Zeit war für die jüdische Bevölkerung bereits so erschreckend, dass es sogar jüdische Kaufleute gab, die 1935, nach den ,Nürnberger Gesetzen', erst mal dachten, jetzt sind wir in Sicherheit. Jetzt geht alles seinen legalen Gang. Weil sie nicht glauben konnten, dass das die Legalisierung der Gewalt gegen sie ist, ein weiterer Schritt ,zur Lösung der Judenfrage'.
Zudem war die Situation nach den ,Nürnberger Gesetzen' alles andere als eindeutig. Wegen der Olympischen Spiele begannen die Nationalsozialisten erst Ende 1936 die Enteignung jüdischer Gewerbebetriebe zu planen und zu organisieren und erst 1937/38 offen und systematisch in die Tat umzusetzen. Es gab eben dieses, wie Marion Kaplan mal sagte, ,Miteinander von Exklusion und Normalität', so ein Hin und Her, in dem mancher Hoffnung geschöpft hat.
Von heute aus gesehen ist ja immer diese Frage im Hintergrund, warum sind sie eigentlich dageblieben, sie hätten es doch wissen müssen. Aber damals hatte kein Betroffener die Vorstellung eines Völkermordes!
Im Anschluss an die Pogromnacht 1938 fingen dann ja auch sofort die ganzen Arisierungsprozesse an. Da war es bereits zu spät für die, die 1938, 1939 noch da waren, nicht rechtzeitig emigrierten. Ich habe mal was gemacht über jüdische Konten bei der Commerzbank. Diese ganze Enteignung der Konten, das war ja alles gesetzesförmig. Die Banken waren übereifrige Erfüllungsgehilfen.
Die Reichsfluchtsteuer
Ausreisewillige Juden mussten eine ,Reichsfluchtsteuer' zahlen und ab 1939 waren das ganze 94 Prozent ihres Vermögens. Das heißt, sie mussten mit 6 Prozent ihres Vermögens ein neues Leben anfangen, irgendwo im Ausland, was für die meisten so gut wie unmöglich war. Das war auch deshalb schon unmöglich, weil viele Länder sich weigerten, solche verarmten Einwanderer bei sich aufzunehmen.
Es gab Deutsche, die haben ja auch die sogenannte innere Emigration gewählt, aber ich habe damit meine Probleme. Weil das Frappierende oder Erschreckende am totalitären System ja genau das ist, dass es nichts Unpolitisches mehr gibt. Also sogar das Einkaufen ist dann politisch, und das muss ja jeder.
Eine erschreckende Erkenntnis ist, dass man seiner nicht sicher sein kann, weil man selber ja auch Angst hätte. Deswegen finde ich das auch fatal, wenn Leute heute sagen, jetzt hört doch endlich mal auf, immer diese Vorwürfe und Schuldzuweisungen an die Deutschen.
Darum geht es ja nicht, sondern es geht darum, die Mechanismen zu verstehen. Das Schlimme war auch, dass es eine Empathielosigkeit gab, eine unglaubliche gesellschaftliche Kälte. Ich hoffe natürlich, ich hätte die Stärke zu sagen, ich mache nicht mit, oder, besser noch, ich mache was dagegen. Also das Wollen, das ist da, aber man kann nur hoffen, dass die Gesellschaft einen nie in diese Situation bringt."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken