Bosnien nach der Verhaftung Mladics: Ein Türspalt ist offen
Genugtuung fühlen die Bewohner von Sarajevo nach der Verhaftung Mladics - der Stadt, die 44 Monate lang von dessen Armee belagert wurde.
SARAJEVO taz | Ob beim Friseur, im Supermarkt, oder im Park: Die Stimmung in der mehrheitlich von bosnischen Muslimen bewohnten Stadt Sarajevo ist gelöst. "Endlich ist Ratko Mladic gefasst," sagt der 60-jährige Amer Begovic, "wir haben so lange darauf gewartet." Er selbst konnte mit seiner Frau und den zwei Töchtern 1992 aus Ostbosnien fliehen, doch sein Sohn und sein Bruder fielen den serbischen Extremisten in die Hände. "Noch immer weiß ich nicht, wo sie ermordet worden sind: in Brcko, in Bjeljina? Wo ist ihr Grab?"
Der 45-jährige Emir Kulenovic war zu Kriegsbeginn bei einer Polizeieinheit, die Sarajevo verteidigte. Über dreieinhalb Jahre saß er in den Schützengräben rund um die Stadt. Viele seiner Kameraden sind gefallen oder wurden schwer verwundet. Er erinnert sich an die Kälte, den Hunger und die Ungewissheit. "Das Schlimmste war, dass wir uns von der Welt verlassen fühlten." Er ballt die Faust.
"Man hätte Mladic schon früher verhaften können, die haben doch alle gewusst, wo er war, die serbische Polizei, die westlichen Geheimdienste. Dass er bei seinem Verwandten mit dem Namen Mladic gefunden wurde, ist ja ein Witz. Als Polizist überwachst du doch als Erstes die Verwandten." Doch dann entfährt ihm doch ein "Endlich! Alle Mörder müssen wissen, dass sie einmal gefasst werden". Er lacht und lädt zu einem Drink ein. "Das müssen wir feiern."
Dass sich Ratko Mladic nun in Den Haag für den als Genozid eingestuften Massenmord vor allem an den Muslimen Bosniens rechtfertigen muss, das freut ihn wie die meisten Menschen in Sarajevo.
Alle Welt sieht nochmal die Bilder
"Der Mythos ist gebrochen", sagt der Rentner und Deutschlehrer Meho Alicehajic, "die Festnahme hat große Bedeutung für die Zukunft in Bosnien und Herzegowina sowie der gesamten Region. Vor allem wird sie Auswirkungen auf die Tschetnikbewegung der Serben selbst haben." Der serbische Nationalismus werde die Verbrechen nicht mehr leugnen können. "Die ganze Welt hat über CNN und BBC jetzt noch einmal die Bilder von damals gesehen. Den Ausspruch von Mladic damals in Srebrenica, als er den Tötungsbefehl als Rache an den Türken ausgab. Und die Bilder von dem Mord an den jungen Männern bei Trnovo."
Diese von einem Armeekameramann aufgenommenen Bilder von der Hinrichtung der jungen Männer hatte vor vier Jahren Aufsehen erregt. "Es gibt ja nicht viele Filmdokumente über die Verbrechen der ,ethnischen Säuberungen' ", sagt auch Srdzan Dizdarevic, lange Jahre Vorsitzender des Helsinki-Föderation für Menschenrechte. Unabhängige Journalisten und Beobachter seien damals von den betroffenen Regionen ferngehalten worden. Zensur gebe es bis heute.
Verhaftung nehme Scham vom Volk
In der serbischen Teilrepublik wurden diese Bilder nach der Festnahme Mladic gestern im Fernsehen tatsächlich nicht gezeigt. Noch immer äußern sich viele Serben Bosniens anerkennend über ihren damaligen Armeeführer. Das Mitglied der Veteranenorganisation Pantelija Curguz kritisiert den serbischen Präsidenten Boris Tadic. Dessen Erklärung vom Donnerstag, Mladic Verhaftung nehme Scham vom serbischen Volk, ist für den Veteranen unfassbar.
"Ist es denn möglich, dass der Präsident unseres Heimatlandes glaubt, dass General Ratko Mladic solche schwerwiegenden Verbrechen begangen hat, obwohl er doch die ehrenhafteste und effizienteste aller Armeen befehligte?" Nedeljko Mitrovic, ebenfalls serbischer Veteran, sieht in der Verhaftung von Mladic die "Verhaftung der serbischen Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina, der "Republika Srpska".
Wird die Verhaftung Mladic einen positiven Effekt auf die kritische Situation in dem in zwei Teilstaaten geteilten Land Bosnien und Herzegowina haben? Die Journalistin Aida Cerkez, die für eine amerikanische Presseagentur arbeitet, ist nicht unbedingt optimistisch. "Zunächst einmal wird sich hier nichts ändern, obwohl Tadic von Versöhnung gesprochen hat." Doch ein Türspalt sei offen. Das jedenfalls betont Srdzan Dizdarevic. "Wir müssen die Tür weiter öffnen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland