: Boris Jelzin droht der eigenen Regierung
■ In seiner Rede an die Nation verlangt der russische Präsident eine sozialere Politik. Neue Vorschläge zur Lösung des Kriegs in Tschetschenien legt der Kremlchef nicht vor
Moskau (AFP/taz) – Vier Monate vor den Präsidentschaftswahlen hat der russische Präsident Boris Jelzin gestern die Regierung zu einer sozialverträglicheren Gestaltung der Wirtschaftsreformen aufgefordert und ihr andernfalls mit ihrer Entlassung gedroht. In seiner jährlichen Ansprache an die Nation vor beiden Kammern des Parlaments sagte Jelzin, die sozialen Rechte der Bevölkerung müßten durch eine neue Reformpolitik sichergestellt werden. „Lange haben wir den Leuten abverlangt, daß sie den Gürtel enger schnallen, und sie haben es akzeptiert. Heute ist ihre Geduld erschöpft“, sagte Jelzin. Die Regierung habe im Kampf um finanzielle Stabilität jene vergessen, die nur von ihrem Lohn oder ihrer Rente leben. Er versprach, daß die ausstehenden Gehälter und Renten gezahlt, geprellte Kleinanleger entschädigt und die Rechte der Kleinbauern geschützt werden.
Jelzin stellt sich bei den Präsidentschaftswahlen im Juni zur Wiederwahl. In den vergangenen Monaten hatte er wegen der strengen Sparpolitik einen herben Popularitätsverlust erlitten. Die Bevölkerung hatte dies bei den Parlamentswahlen mit einem klaren Votum für die Kommunisten quittiert. Deren Spitzenkandidat Gennadi Sjuganow sagte, Jelzin sei auf den Kurs der Kommunisten eingeschwenkt. Die Kommunisten demonstrierten gestern zu Zehntausenden anläßlich des „Tages des Verteidigers des Vaterlands“ mit Stalin- Porträts für die Wiederherstellung der Sowjetunion. Der Menschenrechtler Sergej Kowaljow nannte die Rede Jelzins einen „Cocktail aus populistischen Slogans, Realitäten und Lügen“.
Der russische Präsident rechtfertigte erneut das militärische Vorgehen in Tschetschenien, machte aber nicht die seit längerem angekündigten Vorschläge zur friedlichen Beilegung des Konflikts. Die russischen Truppen riegelten unterdessen die tschetschenische Hauptstadt Grosny ab, um Gedenkdemonstrationen an die Deportation der Tschetschenen im Jahre 1944 zu unterbinden. Stalin hatte ihnen Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht vorgeworfen. Tausende Tschetschenen kamen beim Transport und in der Verbannung ums Leben. Trotz des Demonstrationsverbots versammelten sich bis zu 100 Menschen am Verkehrskreisel Minutka in Grosny. Seite 9
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