: Boom! Boom! Boom!
Kaum fallen die ersten Bomben, weicht die Gegenöffentlichkeit ausgerechnet auf MTV aus: Ein Videoclip von kalifornischen Rockern und Michael Moore zeigt, wovor CNN & Co sich drücken
von ARNO FRANK
Wie politisch Musikfernsehen sein kann, konnte unlängst auf MTV besichtigt werden, als der britische Premier Tony Blair sich im Studio den Fragen des jugendlichen Publikums stellte. Wer dieser Tage in den USA keine startenden Kampfflieger, sondern ausnahmsweise mal Bilder von den weltweiten Protesten sehen will, der braucht nicht CNN einschalten – sondern MTV.
Diese Oase der konsumlustigen Heiterkeit überrascht den Zapper mit Aufnahmen fast aller großen Demonstrationen weltweit, geschnitten im Doku-Stil und unterlegt mit O-Tönen von der Straße. Dazu gibt’s Bauchbinden, wie man sie von CNN kennt – nur stehen dort Informationen, die US-Nachrichtensender nicht eben gerne kommunizieren: „77.000 Leichensäcke hat die Army geordert“, „Mit 500.000 zivilen Opfern wird gerechnet“. Am Ende sausen die Akteure des gegenwärtigen Krieges als verballhornte Cartoon-Figuren zu sehr robusten Metal-Klängen über den Bildschirm. Und wem der Zeichentrick bekannt vorkommt, der hat sich nicht getäuscht: Michael Moore („Bowling For Columbine“) hat das aktuelle Video der Nu-Metal-Kapelle System Of A Down produziert.
„Wenn man sich die Nachrichten anschaut“, sagt Michael Moore, „würde man nicht darauf kommen, dass Millionen von Menschen auf die Straße gehen und sich für eine andere Lösung einsetzen – eine, die nicht das Abschlachten von Unschuldigen vorsieht. Diese Menschen lassen wir in ‚Boom!‘ zu Wort kommen.“
Unabhängige „Guerilla“-Filmer haben ihr Filmmaterial vom Demo-Wochenende am 15. Februar beigesteuert, Moore übernahm den Schnitt und die Trickfilmsequenzen.
System Of A Down (SOAD) sind keine Unbekannten: Das Quartett rekrutiert sich weitgehend aus Armeniern, die in Kalifornien aufgewachsen sind und „das System“ attackieren, wo es nur geht. Ob es nun um überfüllte Gefängnisse, lachhafte Waffengesetze oder den institutionalisierten Kaufrausch geht – SOAD haben den passenden Song parat, ihre letzte Single („Toxicity“) schaffte es mit dem drögen Thema „Umweltverschmutzung“ sogar in die Top 10. Auf wenig Gegenliebe in der Musikindustrie stieß auch ihre Wahl für den Titel der aktuellen Platte: „Steal This Album“ – die Cover wurden von großen Plattenkaufhäusern in London entfernt, weil man dort die Kundschaft „nicht zum Diebstahl animieren“ wollte. Wird Musik wieder politisch? Und wird MTV zum Organ der Globalisierungsgegner? Ein kommerzieller Sender, selbst global player, als Plattform für Gegenöffentlichkeit?
Gerade in den USA wird gegenwärtig sehr genau hingehört. Nur waren Reaktionen auf politische oder gesellschaftliche Ereignisse zuletzt meistens – reaktionär. Neil Young etwa reagierte mit dem Song „Let’s Roll“ verdächtig fix auf die Anschläge am 11. September und sagte erzürnt alle Interviews mit europäischen Medien ab, als er merkte, dass er dieses sentimentale Kampflied nicht einmal dem deutschen Rolling Stone als „ironisch“ verkaufen konnte. Bruce Springsteen verarztete die amerikanische Seele mit musikalischen Sentimentalitäten. Beim offiziellen Charity-Konzert zugunsten toter Feuerwehrmänner blamierte sich nicht nur der Brite Paul McCartney mit einfältigem US-Patriotismus. Die Gruppe Bon Jovi gab, eingewickelt in die US-Flagge und mit Blick auf den bösen Oberterroristen, ihren Hit „Wanted Dead Or Alive“ zum Besten. Mag ja sein, dass der Rock’n’Roll damit seine „Unschuld“ verloren hatte, wie besorgte Kommentatoren damals urteilten. Aber was soll’s, dann begegnet er der korrumpierten Welt künftig eben auf Augenhöhe.
Gesinnungsrock à la SOAD in die Tradition von Protestsängern wie Woody Guthrie oder Bob Dylan zu stellen – wie Michael Moore es in einem Interview tat – ist redlich, aber Unsinn: Wer sich heute allzu weit aus dem Zugfenster lehnt, der kann zur Not noch auf dem Trittbrett mitfahren. Dem kommerziellen Waren- und Wertekreislauf entgeht heute niemand mehr. Nicht einmal Michael Moore, erst recht nicht MTV und schon gar keine kalifornischen Hardrocker.
Aber selbst wenn „Boom!“ nur wohlfeile Pose oder kalkulierte Trittbrettfahrt wäre – es ginge immerhin noch schäbiger: Die derzeit sehr erfolgreiche Gruppe 3 Doors Down („When I’m Gone“), nicht nur musikalisch deutlich simpler gestrickt als SOAD, hat ihr jüngstes Video auf einem US-Flugzeugträger gedreht, vor jubelnden Landsern und startenden Kampffliegern, als wär’s ein Special von CNN. Der schmissige Clip zum Irakkrieg wird nur in den USA ausgestrahlt. Für ihre europäische Kundschaft haben 3 Doors Down natürlich eine entschärfte Variante produziert.