■ Bonner Maßstäbe: Das kleinere Übel
Hätte Eberhard Diepgen das Ergebnis der Bonner Kabinettsrunde an seinen ursprünglich geäußerten Erwartungen gemessen, er hätte enttäuscht reagieren müssen. Das von ihm zuletzt genannte Datum 1998 ist hinfällig, von der Terminierung des Bundestagsbeschlusses vom Juni 1991 reden allmählich nur noch Historiker. In dem Kabinettsbeschluß einen Erfolg zu sehen setzt voraus, die Politik der Bonner Republik zur Meßlatte eigener Bewertung zu erheben und sich im gleichen Maße von der Ausgangslage der Auseinandersetzung zu entfernen. Wolfgang Thierse war der einzige, der gestern die Koordinaten, in denen der Beschluß vom 20. Juni 1991 fiel, ins Gedächtnis rief, als er die Schwerpunktverlagerung deutscher Politik nach Berlin als den entscheidenden Punkt benannte, ein bestimmtes Maß von politischem Gleichgewicht zu bekommen. Davon hat man sich in der Umzugsdebatte der letzten Monate bereits weit entfernt. So ist für Thierse schlichte Verschleppungstaktik, was Berlins politische Klasse unisono begrüßte. Wo der Maßstab der eigenen Politik im Kanzleramt hängt, da wird das Erreichen des kleineren Übels getrost als Erfolg gefeiert.
Der Halt der Großen Koalition, die nach der Olympiaentscheidung bereits erodierte, scheint erst mal wieder gesichert, der angeschlagene Diepgen kann wieder strahlen. Der Preis, den die Stadt für diesen vermeintlichen Sieg bereits gezahlt hat, ist hoch. Wesentliche Kompetenzen und zentrale Areale wurden als Morgengabe preisgegeben, die Aneignung der Stadt durch Bundesregierung und -parlament erfolgt nach klassischem Muster, raumgreifend und gegen die Bürger. Daß diese dennoch den Umzug mehrheitlich begrüßen, ist eher Ausdruck der wirtschaftlichen Not denn des politischen Wollens. Es wäre ein Trugschluß, würde der Senat von seinem Sieg gegen „die Bonner“ auf eine stärkere Akzeptanz seiner Politik in der Bevölkerung schließen. Dieter Rulff
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