■ Bonn-apart: Die Geschäftsordnung Kanzler
Wer hätte das gedacht? Neuerdings ist es Bundestagsabgeordneten wieder gestattet, das Plenum zu verlassen, wenn der Kanzler spricht. Vor kurzem war das noch nicht so. Zumindest durften das die Mitarbeiter der grünen Parlamentarierin Gila Altmann feststellen. Wegen eines dringenden Termins wollten sie ihre Abgeordnete aus dem Plenarsaal holen. Doch die Parlamentsassistenten beschieden das Anliegen abschlägig: „Während der Kanzler spricht, dürfen keine Abgeordneten aus dem Saal geholt werden.“
Gila Altmann erkundigte sich bei Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, ob eine besondere und bisher nicht veröffentlichte „Geschäftsordnung Kanzler“ existiere oder ob der Deutsche Bundestag sich „im Sinne der Tradition des ,Hofhaltens‘ früherer deutscher Souveräne“ verpflichtet fühle. Vor wenigen Tagen lüftete der Ältestenrat nun das Geheimnis.
„Die Präsidentin teilt mit“, heißt es da im Sitzungsprotokoll hölzern, aber nicht unsympathisch, „es gebe eine Anordnung an die Plenarassistenten aus dem Jahre 1980, daß während der Reden des Bundeskanzlers und des Oppositionsführers Abgeordnete möglichst nicht aus dem Saal geholt und Störungen allgemein vermieden werden sollen. Diese Anordnung hat das Präsidium nunmehr aufgehoben.“
Das überraschte nicht nur die Grünen: Keineswegs Kanzler Kohl, sondern sein Vorgänger Helmut Schmidt war Urheber des Dekrets. Vermutlich hatte der Mann mit der Mütze, der bereits damals so redete, wie er heute in der Zeit schreibt, schon vor 15 Jahren starke Probleme, sein Publikum zu fesseln, und wollte überdies für den Fall eines Machtwechsels vorsorgen – schließlich galt der Erlaß auch für Reden des Oppositionsführers. So kam es bekanntlich, nur eben anders, und nun hat die kurfürstlich verordnete Kanzler- Ruhe ein Ende gefunden.
Gila Altmann feiert dies als „ersten Erfolg“ der Bündnisgrünen bei der geplanten Parlamentsreform. Restlos zufrieden ist sie jedoch nicht. Leider habe der Ältestenrat versäumt festzulegen, wer denn der „Oppositionsführer“ sei, der künftig allein gelassen werden dürfe. Während der Reden von Joschka Fischer wolle sich ihre Fraktion zwar disziplinieren, Rudolf Scharping hingegen müsse sich schon anstrengen, wenn er verhindern wolle, „daß wir bei seinen Erklärungen weiterhin unter der Bank ,Mensch, ärger dich nicht!‘ spielen“. Bernd Neubacher
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