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Archiv-Artikel

Bohemelichkeiten

Sprachlicher Aberwitz und selbstgerechte Brutalität: Rainer Braunes artistischer Roman „Die Krokodilfärberei“

Hier ist kein Platz fürepische Breite, wohl aberfür präzis choreografierte Kombinationen

„Etwas war vorbei, und etwas anderes hatte noch nicht begonnen, dachte ich schlafend und wusste von keinem Teil des Satzes, ob er stimmte.“ Ungewissheit könnte das Motto zu Rainer Braunes Roman „Die Krokodilfärberei“ lauten, in dem die beschriebenen Gegenstände wie Bilderrätsel wirken und die Protagonisten sich in skeptisch-naiver Unschuld gefallen.

Rainer Braune, 1953 geboren, arbeitet als Zirkusdirektor, Komponist, Zeichner, Puppenspiel-Autor und Theaterregisseur. Wer glaubt, ein solcher Tausendsassa könne nur ein putziges Buch zustande bringen, irrt. In seinem Roman „Die Krokodilfärberei“ hat er all seine Fähigkeiten nahezu synästhetisch aufgehoben. Von sich selbst behauptet Braune, er liebe es fantastisch, kurios, surreal, fremd, bizarr, bitter, kitschig, lustig, grausam, schnippisch, gefühlvoll, hysterisch, humorvoll, lächerlich, bösartig, geistreich, geschraubt, grotesk, rührselig, zartbesaitet, arrogant, furchtlos, burlesk, geschmacklos, roh, verletzlich, exaltiert, wehmütig, sentimental und herb, schmerzhaft und treffsicher, amüsant und eigenartig. Nach der Lektüre seines Romans wird man diese Auflistung nicht für übertrieben halten.

Gilles, der Held und Erzähler, kommt aus der Stadt, wo er Freundin, Bekannte und ähnliche Habseligkeiten zurücklässt. In der „Tulpischen Wildnis“, dem Gelände einer ehemaligen Gärtnerei, bezieht er ein verwahrlostes Haus und hat sofort das Gefühl, an einem Ort angekommen zu sein, „von dem ich bislang nicht gewusst hatte, dass ich mich nach ihm sehnte“. Eigentlich soll er nur einige Zimmer renovieren, für Quitzow, einen erblindeten Cembalisten, der dort seinen Lebensabend verbringen möchte. Es wird mehr. Es wird eine schwindelige Liebesgeschichte mit märchenhaften Naturbeschreibungen, sprachlichem Aberwitz und selbstgerechter Brutalität. Um es vorweg zu sagen: „Die Krokodilfärberei“ ist die romantischste und gelungenste Narrheit, die man zurzeit bekommen kann.

Im Nachbarhaus wohnen zwei junge Schwestern, Adolphine und „die Wusterwitz“, sowie ihr neunjähriges Findelkind Anne Capaldi, die Erwachsene neunmalklug in Verlegenheit bringt. Gilles renoviert wenig, ist lieber Zeichner, verliebt sich zart wild in die Malerin Adolphine, debattiert mit der kleinen Capaldi über Könige und geht der Wusterwitz zur Hand, die sich um eine Gruppe blinder Kinder kümmert. Adolphines Geigenlehrer Möbius ist gestelzt und nervt alle Beteiligten, die ihn nach besten Kräften zu irritieren suchen. Alle außer ihm sind rasend schlagfertig, und trocken kommentieren sie „Bohemelichkeiten“ aller Art.

Gilles bleibt länger. Unheil dräut. Es kommt zu einer Vergewaltigung, einem nahen Tod, einem lebendigen Begrabensein und einem Mord. So unwahrscheinlich wie der Spaß ist nun die Depression. Aber wir haben Glück, die Welt wird immer besser. Es ist warm, man badet, der Bösewicht hat endgültig ausgespielt und das Liebespaar findet sich. Gilles, Adolphine, die Wusterwitz, die kleine Capaldi, Möbius, eine Schar blinder Kinder und noch ein paar Gestalten balgen sich um das Rederecht. Doch auch Tassen, Besteck, Gebäude, Viecher und Landschaft samt Wolken drüber haben ein Wörtchen mitzureden.

Es geht schnell. Und die Art und Weise, in der sich die einzelnen Passagen entschieden, aber nicht unfreundlich unterbrechen, ist komisch und absonderlich. Dass sich zwei Erwachsene inmitten einer Gruppe blinder Kinder lieben, hat keinerlei unangenehmen Beigeschmack – die Kinder reden derweil über das soeben gehörte Märchen. Alles ist höchst undramatisch geschildert, so eng hintereinander weg, dass auch kein Platz bleibt für epische Breite, wohl aber für präzis choreografierte Kombinationen mit schlagenden Vokabeln. Körperlichkeit ist ein durchgehendes Charakteristikum aller Situationen. Menschen fassen sich an. Entzückt forschend bis kalt geil. Auch Landschaft kann muskulös sein, und Essen gibt es auch: Kartoffelbrei, Blutfettbrot, Rhabarberkompott.

Rainer Braune hat einen artistischen Roman geschrieben. Viele seiner Kunststückchen sind eher überflüssige Ornamente, doch wen interessiert das, wenn man dabei sein darf, wenn Pfauen proben, im Schnee zu landen, ein Antiquitätenhändler seiner Perversion nachgeht und ein Konzertabend zu einer königlichen Rachearie wird?

GUSTAV MECHLENBURG

Rainer Braune: „Die Krokodilfärberei“. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2004, 272 Seiten, 17,90 €