Björks neues Album "Biophilia": Die Quallengalaxie
Die Musikindustrie muss sich neu erfinden. Wie das aussehen könnte, zeigt Björk mit ihrem multimedial erweiterten, irren neuen Konzeptalbum "Biophilia".
Im Interview mit dem US-Blog Stereogum vergleicht Björk ihr neues Projekt mit einer Qualle. Deren zahlreiche Tentakeln seien eine Metapher für die ausufernde Ideenflut, in der die isländische Popikone während der Arbeit an ihrem Album "Biophilia" regelrecht zu ertrinken drohte.
Denn es sollte diesmal nicht nur bei einer handelsüblichen CD bleiben, schließlich kränkelt die Branche. Und jede Idee zum wuchernden Gesamtkunstwerk führte zum nächsten, noch größeren Projekt. Daraus erwuchsen kühne Pläne für eine Installation in einem Wissenschaftsmuseum in Tokio oder gar ein eigenes Museum. Selbst ein IMAX-3-D-Film in Zusammenarbeit mit dem US-Natur- und Wissenschaftsmagazin National Geographic wurde erörtert.
Alles, was musikalische und visuelle Einfälle vermischt, tastbare und virtuelle Welten vermengt, stand zur Disposition. Aber diese Pläne erwiesen sich als zu aufwändig und kostspielig. Nichts davon wurde verwirklicht. Dennoch, von der fixen Idee, ein multimediales Werk um ihr neues Album "Biophilia" herum zu kreieren, hat Björk nicht abgelassen.
So entstanden also begleitend zum Album auch Apps für das iPhone, eine ausgeklügelte Livetour, ein Dokumentarfilm und eine neue Website. Das interaktive Brimborium klingt auf Anhieb eher bodenständig, ja fast konservativ oder sogar enttäuschend: Konzerte gab es bereits vor der Erfindung der Langspielplatte 1948, auch mit Making-ofs kann man niemanden mehr überraschen, und mittels App beglücken Lady Gaga oder Justin Bieber schon seit Längerem ihre Fans.
Aber Björk treibt ihr tentakelartiges Werk ein gutes Stück weiter: Jeder einzelne "Biophilia"-Projektbaustein wird um eigens kreierte Erfindungen erweitert, interpretiert, umgebaut, aufgeblasen und verspricht neue Erfahrungen – in einem Ausmaß und einer Dichte, die es so noch nicht gab. So ist allein die geplante Tournee über einen Zeitraum von drei Jahren angelegt, bestehend aus jeweils sechswöchigen Engagements in acht verschiedenen Metropolen – mit Pausen zwischendurch.
Eine Nähmaschine als Riesenorgel
Der Auftakt dieser globalen Reise fand bereits im Juni im britischen Manchester statt, wo das Publikum die Weltpremiere neuartiger Instrumente bestaunen konnte, die Björk mitkonzipiert und von professionellen Handwerkern aus Island und Großbritannien hatte anfertigen lassen: eine gigantische Orgel etwa, die aussieht wie eine antike Nähmaschine mit silbernen Rädern – ihre Klänge werden nicht durch Pfeifen, sondern durch Grammofontrichter erzeugt.
Mit dabei auch fünf Meter hohe Pendel, die als Harfe fungieren, oder eine sogenannte Gameleste, eine Kreuzung aus Gamelan und Celesta. Das ergibt dann eine mit unzähligen Xylofonstäben ausgestattete Orgel, die letztlich wie ein Glockenspiel klingt.
All diese fantastischen Instrumente, so Björk weiter im Interview, sind mit der heutigen Zeit kompatibel: Sie haben alle einen "Plug and Play"-iPad-Anschluss und stehen zudem in enger Verbindung mit dem virtuellen App-Universum, in dem Björks neues Album sich auf Knopfdruck erst komplett entfalten soll.
Im Netz steht bereits die erste, kostenlose Mutter-App "Biophilia" zur Verfügung: ungewöhnlich satte 250 Megabytes, die iPhone, iPod Touch oder iPad der neueren Generation voraussetzen. Beim Öffnen der App wird man sogleich von der sonoren Stimme des preisgekrönten Tierfilmers und Naturforschers Sir David Attenborough willkommen geheißen.
Wiedervereinigung von Mensch und Natur
Während sich die elegante 3-D-Darstellung einer imaginären Galaxie auf dem Bildschirm entfaltet, erklärt der Brite mit Kultstatus das "Biophilia"-Konzept: Die Gesamtheit der Natur in all ihrer Größe sei für uns Menschen ein Mysterium. Ähnlich verhalte es sich mit der Musik, die wir weder berühren noch sehen können. Mit "Biophilia" aber würden wir nun erleben, wie Natur, Musik und Technologie erstmals aufeinandertreffen. Eine Revolution: "Biophilia" ist die Wiedervereinigung von Mensch und Natur durch die Mittel der Technologie.
Bereits 2005 mutierte der Mensch Björk dank aufwendiger Spezialeffekte zu einem Wal, damals im ökologischen Experimentalfilm "Drawing Restraint 9" des US-Medienkünstlers Matthew Barney, Björks Ehemann. In der realen Welt ist die Isländerin schon lange eine engagierte Umweltaktivistin. Anfang des Jahres sammelte sie während eines Karaoke-Marathons Unterschriften für eine Volksabstimmung, um den Verkauf isländischer Naturressourcen zu verhindern.
Auf "Biophilia" gebührt der Natur folgerichtig eine zentrale Rolle: Alle zehn Songs sind jeweils einem Naturelement oder Phänomen gewidmet, von Urknall über Mond bis hin zum Donner. Diese Naturgewalten finden sich auch in der animierten 3-D-Galaxie der "Biophilia"-App als Astralkörper wieder.
Bei der Auswahl des Titels "Moon" beispielsweise wird nach allerlei Hin-und-Her-Gefliege erklärt, das Lied sei von Gemeinsamkeiten zwischen musikalischen Abläufen und den vom Mond verursachten Gezeiten inspiriert. Zu den abrufbaren "Moon"-Features zählen der Song selbst, eine Partitur mit Karaoke-Option, interaktive Animationsfilme, Videospiele und ein wissenschaftlicher Essay.
Der entscheidende Klick kostet Geld
Musik hören, lernen und selbst kreativ werden. Nur noch ein Klick, und die Reise könne losgehen. Dieser Klick ist dann allerdings kostenpflichtig.
An sich logisch, so Björk in Stereogum, denn die Lage sei ernst: Die Musikindustrie bleibt auf ihren Tonträgern sitzen, seit sich alle Welt ihre Lieblingssongs illegal aus dem Internet lädt. Björk aber hält nicht viel von düsteren Prognosen. Anstatt auf eine Lösung seitens der Plattenfirmen zu warten, hat sie sich entschieden, technologische Neuerungen mit offenen Armen zu umarmen, und geht jetzt selbst der Frage nach: Wie funktioniert das Ganze, und wie nutze ich es für meine künstlerischen und finanziellen Zwecke?
An den Zutaten hapert es jedenfalls nicht: Bereits für das Vorgängeralbum "Volta" kooperierten etliche Größen der internationalen Pop- und Kunstszene, und auch bei "Biophilia" sind die Ingredienzen erlesen. Musikprominenz wie der Brite Matthew Herbert oder der Syrer Omar Souleyman steuern Remixe bei, und ehrenamtliche Rückendeckung kommt von der Crème de la Crème der App-Entwickler-Szene.
Selbst wenn, so Björk im Interview mit dem Guardian, die Apps gehackt werden sollten, so sei das okay. Hauptsache, die Hacker würden dabei kreativ vorgehen. Mit ähnlich selbstironischer Distanz bewertet Björk ihre eigene musikalische Fortentwicklung. Bei jedem neuen Album konfrontiere sie sich mit ihren Tabus, A-capella-Musik hielt sie etwa für "das Grausigste auf Erden", um dann 2004 das Album "Medúlla" ausschließlich A capella zu produzieren.
Hell klirrende Melodien
Über den Sound von "Biophilia" sagt sie: "Jetzt mache ich plötzlich generative Musik, alles klingt nach Pastelltönen und fast schon oberflächlich. So einen App-Song herauszubringen ist an sich ein Desaster, aber ich nehme die Herausforderung an!"
Tröstlich, dass "Biophilia" jetzt auch als gewöhnliches Album erhältlich ist. Es klingt, von dem ganzen Gesamtkunstballast befreit, weder pastellfarben noch überkompliziert. Akustik und Elektronik werden virtuos vermählt: Hell klirrende Melodien und kreisende Gameleste-Akkorde konkurrieren im Song "Crystalline" mit wilden Breakbeats. In "Moon" freut man sich über jedes Knarzen der Harfensaiten, während "Thunderbolt" eine hallende Orgel gegen wummernde Elektrobässe anfliegen lässt.
Der Song "Virus" schließlich bringt das Björksche Quallenthema Mensch-Natur-Technik ironisch auf den Punkt, als grausam-zärtliche Liebeserklärung eines anhänglichen Keims an seinen Gastkörper.
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