Birte Müller Schwer mehrfach normal: Das Tattoo als Gesprächsanstoß
Als ich Kind war, sah ich Tätowierungen nur bei den Leuten, die vor dem Supermarkt mit Bierdosen herumstanden. Heute ist gefühlt jeder zweite Mensch angemalt, auch wenn es laut Statistik nur jeder Vierte ist. Mit Tätowierungen möchte man oft etwas ausdrücken: Individualität, dass man Bayern-Fan ist oder eine Tochter namens Stella-Allegra hat.
Beliebt scheinen auch Daten von Geburts- oder Hochzeitstagen – eine durchaus praktische Erinnerungshilfe! Trotzdem tätowiere ich mir lieber nicht meine Handy- oder Krankenkassennummer. Laut Google könnte nämlich so ziemlich jede Zahl auch ein Code für den Geburtstag von Hitlers Katze sein oder „Deutschland den Deutschen“ bedeuten. Auch mit Symbolen ist Vorsicht geboten. Ob Tränen, Flügel oder nur ein paar Punkte: Je nachdem, ob man irgendein Gangmitglied ist, im Gefängnis gesessen hat oder nur ein Volltrottel ist, kann so was von „Ich bin ein Massenmörder“ bis hin zu „Ich habe einen scheiß Geschmack“ so ziemlich alles bedeuten. Man findet im Internet auch sehr lustige Fotos von Menschen, die sich bedeutungsschwangere Sinnspruch-Phrasen in geschwungenen Lettern inklusive Rechtschreibfehler haben stechen lassen. Ich frage mich, ob das nicht in Kombination mit einem Organspende-Bereitschafts-Tattoo vielleicht gefährlich sein könnte, weil man es als Nachweis für einen Hirntod heranziehen könnte.
Egal. Ich hatte auf jeden Fall erwartet, dass die Generationen nach mir mit Tätowierungen nur noch in der Altenpflege Kontakt haben würden. Damit lag ich völlig falsch. Stilistisch hat sich aber eine Menge verändert. Der Trend scheint weg von großflächigen Tribals und Drachen hin zu einzelnen, scheinbar wahllos verteilten Strichzeichnungen überall am Körper gegangen zu sein. Es erinnert mich stark an die Schreibtischunterlagen, auf denen früher unser Festnetztelefon stand: Kunstwerke, gewachsen aus einstmals wichtigen Zahlen und Worten, umgeben von jeder Menge kleiner Bildchen, Mustern und Kritzeleien, geboren aus der Langeweile. Wahrscheinlich ist der neue Tattoo-Stil schlichtweg die logische Konsequenz daraus, dass wir heute mit unseren Telefonen praktisch verwachsen sind.
Angeblich sollen viele Tattoos neben der Betonung der Persönlichkeit ihres Besitzers auch einen Gesprächsanstoß für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen bieten. Ich persönlich frage aber nie nach Tattoo-Bedeutungen – ich finde das übergriffig. Ich gehe einfach davon aus, dass die Arzthelferin mit der Lavalampe und dem Sponge Bob auf dem Unterarm Lavalampen und Sponge Bob mag. Meinem Mann habe ich vorgeschlagen, sich als starke persönliche Botschaft den Rücken und die Glatze mit Solarmodulen vollzutätowieren. Aber er will nicht.
Apropos übergriffig: Tätowierte Rollstuhlfahrende bekommen anscheinend recht häufig mitgeteilt, dass man es wahlweise besonders cool oder besonders unpassend findet, dass sie als „solche Menschen“ tätowiert seien. Für „solche Menschen“ wie unseren Sohn – also mit geistiger Behinderungen – ist es schwierig, sich den Wunsch nach einer Tätowierung zu erfüllen. In den Tattoo-Studios will man dafür in der Regel eine Einwilligung der gesetzlichen Betreuer sehen – oft also von den Eltern. Und wenn sich Willi jetzt gerne einen Dönerteller für zwei Personen auf den Oberschenkel stechen lassen möchte, würde ich das auch nicht so toll finden. Während viele junge Menschen so verzweifelt auf der Suche nach Individualität sind, sortieren wir Kinder mit Besonderheiten schon im Vorfeld aus. Irgendwie seltsam.
Für Angehörige von Menschen mit Downsyndrom gibt es übrigens auch ein spezielles Tattoo. Es zeigt drei nach oben zeigende Pfeilspitzen und nennt sich aus gegebenen Anlass „The Lucky Few“ – die wenigen Glücklichen.
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