piwik no script img

Birte Müller Schwer mehrfach normalKinder behindern

Ab dem Zeitpunkt, an dem unser Sohn Willi das Laufen lernte, wurde vieles Schwieriger – zum Beispiel größere Familienfeste. Trotzdem schleppten wir ihn und uns lange auf diese Veranstaltungen. Während die anderen sich unterhielten, versuchten wir schichtweise, Willi mit Liedern und Fingerspielen am Tisch zu beschäftigen, penibel darauf achtend, dass keine Gläser oder andere Wurfgeschosse in seinen Einflussbereich gestellt wurden.

Meist war die Zeit, die Willi schaffte, auf dem Stuhl zu sitzen, schon vorbei, bevor das Essen auf dem Tisch war. Also lief einer von uns durchgehend hinter ihm her und versuchte zu verhindern, dass er heiße Kaffees vom Tisch zog oder auf die Straße lief. Enge Räume mit vielen Menschen, die einem dabei die Laufwege versperrten oder sogar noch dachten, wir könnten uns nebenbei mit ihnen unterhalten, waren der reine Horror für uns.

Damit wir auch essen oder uns um seine kleine Schwester kümmern konnten, legten wir für Willi eine Decke auf den Boden und er bekam ein Tablet, auf dem er das Dschungelbuch schaute. Mein Kind auf Festen vor die Glotze zu setzen, kam mir wahnsinnig deprimierend vor. Ich wünschte, Willi hätte mit anderen ­Kindern spielen können. Aber weder war er dazu in der Lage noch hatten diese ein Interesse daran.

Ich habe viele schöne Erinnerungen aus meiner Kindheit an Familienfeiern. Wenn das Herumsitzen bei den Erwachsenen endgültig zu langweilig wurde, nahmen wir Kinder erst schüchtern Kontakt auf und rannten dann meist schon kurze Zeit später so laut um die Tische, dass wir zum Spielen rausgeschickt wurden. Immer wenn es gerade richtig toll war, wollten die Eltern nach Hause.

Foto: privat

Birte Müller

ist Illustratorin, Autorin und Mutter von Willi (17) mit Downsyndrom und Olivia (15) mit Normal-syndrom. 2021 hat sie zusammen mit Yannick de la Pêche das Kinderbuch „Wie krank ist das denn?“ veröffentlicht.

Dass mein behindertes Kind das nicht erleben konnte, ist traurig, aber daran trägt keiner die Schuld. Olivia wollte immer gerne mit den anderen Kindern spielen, aber dass viele Eltern auch ihren unbehindertern Kindern ihre Handys in die Hand drückten, um sie zu beschäftigen, machte die Kontaktaufnahme oft ­schwierig.

Das war vor über zehn Jahren. Mittlerweile bekommen viele Grundschüler sogar eigene Smartphones gekauft, die sie bald an fast allem hindern, was Kindern eigentlich tun sollten: spielen, toben, schnitzen, klettern, basteln, träumen. Mich gruselt es, wenn ich im Bus sehe, wie Kleinkinder neben ihren Eltern im Sekundentakt Videos mit Kinderliedern oder Trickfilminhalte vom Bildschirm wischen oder wie Schüler auf dem Pausenhof in Gruppen zusammengesunken mit dem Kopf im 90-Grad-Winkel zum Körper auf ihre eigenen Displays starren. Sie sprechen nicht miteinander, sehen sich nicht an, schauen nicht herum, bewegen sich nicht.

Ich kann nicht begreifen, wieso wir ständig darüber diskutieren, ob die Inhalte, die unsere Kinder konsumieren, nun schädlich sind oder nicht. Bis dazu Langzeitstudien vorliegen oder die Inhalte wirklich reguliert werden, ist doch eine ganze Generation verblödet und krank. Ist doch egal, wenn noch nicht exakt wissenschaftlich belegt ist, was genau der Medienkonsum mit einem kindlichen Gehirn macht – wir sehen doch deutlich, was unsere Kinder in dieser Zeit alles NICHT mehr tun. Wir müssen sie schützen vor Produkten, die von den mächtigsten Tech-Unternehmen einzig dafür entwickelt werden, sie süchtig zu machen, um mit ihnen Geld zu verdienen. Kein Wunder, dass Eltern das kaum regulieren können.

Von mir aus sollten Smartphones für alle Kinder verboten werden

Von mir aus sollten Smartphones nicht nur in den Schulen, sondern am besten gleich für alle Kinder unter 16 verboten werden. Wenn keiner ein Handy hat, haben auch alle wieder Zeit und Lust zum Verabreden und niemand wird mehr gemobbt, weil die Eltern so vernünftig sind, sich nicht die Büchse der Pandora ins Haus zu holen. Apropos Eltern: Für uns sollte auch ein Handyverbot gelten, wenn wir mit unseren Kindern zusammen sind. Die verlorene Zeit mit ihnen lässt sich niemals wieder nachholen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen