Biografien über Heinrich von Kleist: Krauser Kopf der Schauerromantik

Auf Erden war Heinrich von Kleist nicht zu helfen. Hatte er jemals Geschlechtsverkehr? War er schwul? Auch die zwei neuen Biografien klären diese Geheimnisse nicht auf.

Kleist lässt sich nicht enträtseln. Doch leider verzichten die beiden Biografien auch auf interessante Spekulationen. Bild: rowohlt

Nach seinem Ende wurde der Ruhm ihm ja zuteil, in Unmengen; die Unsterblichkeit, sie wurde ganz sein, nachdem er sich im November 1811, 34 Jahre alt, entleibt hatte. Schon in der Mauerstadt Westberlin konnte man Besuchern ein starkes Gefühl vermitteln, wenn man mit ihnen von der Potsdamer Chaussee, kurz bevor sie in die Königsstraße übergeht, abbog und paar Schritte zum Kleinen Wannsee hinunterging: Ja, hier war es, sehen Sie selbst.

Seine Haare waren schwarz und seine Augen blau, wie bei Schneewittchen. Sein Schädel war so hart, dass die Säge zerbrach, als man ihn öffnete. Die Kugel steckte im Gehirn. Er hatte sich in den Mund geschossen und war an dem Pulverdampf erstickt, der dabei in die Lunge dringt. Zuvor eine Kugel in die Brust von Henriette Vogel, krebskrank, mit der sich der junge Mann wenig zuvor wegen des gemeinsamen Todes innig befreundet hatte. Das alles ist ohne Sinn und schafft deshalb eine bizarre Faktizität; Kleist selbst hat ihr in den Anekdoten, die er für seine Berliner Abendblätter verfasste, die adäquate Prosaform verliehen. Ach, die Berliner Abendblätter, das letzte seiner hoffnungslosen Projekte - die Seitenfüller daraus, eben jene Anekdoten, gingen in den Kanon ein und quälten Generationen von Schülern.

Kleists Nachruhm ist es - wie derjenige Franz Kafkas, der ihn bewunderte -, der das geistesgeschichtliche Faktum ausmacht. Der unermüdliche Helmut Sembdner widmete ihm sein ganzes Forscherleben, und der von ihm herausgegebene Band "Heinrich von Kleists Nachruhm" (1977) dokumentiert die staunenswerte Variationsbreite möglicher Interpretationen. Heinrich von Kleist präfigurierte den Nazi, weiß 1943 Rudolf Ibel. "Er hat den geistigen Raum von nahezu zweitausend Jahren gesprengt, er steht sowohl außerhalb der christlichen und rationalen als auch der humanistischen und idealistischen Geisteshaltung, und er steht auch bereits jenseits des Preußentums. Er ist durch- und vorgestoßen bis in die ursprünglichen Tiefen des Deutschtums und seines völkischen Reiches." Damit zusammenzupassen weigert sich das Lausbubengesicht, das Peter Friedels Miniatur von 1801 überliefert, entschieden. Und man stellt sich die wüste "Herrmannsschlacht", die den Blutdurst der Germanen gegen Rom elaboriert, als Groteske vor: Die Germanen, das sind die kleinen grünen Männchen in Tim Burtons "Mars Attacks". Überhaupt tendieren Kleists Stücke ebenso wie Erzählungen ja zur Schauerromantik.

Aber es existiert ebenso ein linksradikaler Kleist. 1972 inszenierte Peter Stein an der Westberliner Schaubühne am Halleschen Ufer "Kleists Traum vom Prinzen Homburg", und der avantgardistische Kritiker Reinhard Baumgart erkannte in dem Prinzen - statt des unterwerfungssüchtigen preußischen Untertanen - eine Gestalt aus der sich eben auflösenden Jugendrevolte. "Bruno Ganz, in weißem, halb Pierrot-, halb Reiterkostüm, ein schöner, weher Clown zu großer preußischer Hoffnungen, das Gesicht immer weich, sperrangelweit offen -, diesem Prinzen muß man sein und Kleists Bedürfnis glauben, sich über alle leidige Realität hinauszuschwärmen, nur den Reitergeneral und Kriegsheros glaubt man ihm kaum." Mittels Kleists Preußen lässt sich sogar noch die befreite Gesellschaft, von der 68 so heftig träumte, darstellen.

Die außerordentliche Wirkungsgeschichte leitet sich aus dem außerordentlichen Werk her - sowie der schlechten Quellenlage zu Kleists Lebensgeschichte, die jede Legendenbildung erlaubt. Es ist nicht ganz so schlimm wie bei Shakespeare, den man bekanntlich für einen ganz anderen erklären kann, Jacques Pierre, ein französischer Immigrant im elisabethanischen England, oder gleich Edward de Vere, Earl of Oxford. Das hat zu dem schönen dekonstruktivistischen Spruch geführt: "Die Stücke Shakespeares stammen nicht von Shakespeare, sondern von einem Unbekannten gleichen Namens."

Nein, so hoffnungslos ist Kleists Fall nicht. 1777 wird er geboren, er entstammt altem preußischen Adel. Er tritt beim Militär ein, wird Offizier und quittiert 1799 den Dienst, um zu studieren. Er verlobt sich mit Wilhelmine von Zenge, der er prachtvolle Briefe schreibt, die später zu seinem literarischen Werk zählen. Nach dem Abbruch des Studiums unternimmt er mit einem Freund eine Reise nach Wien, die in Würzburg endet. Es ist eine Reise, auf die er in seinen Briefen an die Verlobte geradezu Heilserwartungen richtet - und die seinen Biografen schon immer schwerste Rätsel aufgegeben hat. Gerhard Schulz dekliniert in seiner vor kurzem erschienenen Biografie anmutig alle Lösungsvorschläge durch: Kleist litt an einer Phimose, die chirurgisch beseitigt werden musste, damit aus der Ehe was würde. Kleist suchte einen Magnetiseur auf, einen Anhänger von Franz Anton Mesmers Lehre vom tierischen Magnetismus, von dem er sich Abhilfe gegen sein Stottern und andere neurotische Hemmungen erhoffte. Kleist nahm in Würzburg Kontakt zu den Freimaurern auf, die ihn bei seinen unklaren Karriereplanungen unterstützen sollten. Kleist war als Spion unterwegs, weniger hinter militärischen Geheimissen denn solchen industrieller Produktion her - bewarb er sich nicht gleich darauf, nach Berlin zurückgekehrt, um die Erlaubnis, an den Sitzungen einer "technischen Deputation" teilzunehmen, als habe er in solchen Fragen was beizutragen?

Gerhard Schulz entscheidet sich für keine Lösung des Würzburg-Rätsels. Ebenso Jens Bisky, von dem die zweite Kleist-Biografie des Jahres stammt. Schulz hat sein Leben als Germanistikprofessor im australischen Melbourne verbracht, spezialisiert auf die deutsche Literatur von 1770 bis 1830, also deren goldenes Zeitalter. Die Kleist-Biografie hat der Emeritus aus seinen genauen und reichen Kenntnissen dicht gewebt. Bisky, geboren 1966 in Leipzig, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, lässt uns im Unklaren darüber, was ihn zur biografischen Arbeit motiviert hat. Kleists imaginäres Preußen als Präfiguration einer imaginären DDR? Via Kleist Preußen in die gesamtdeutsche Erzählung heimholen?

Ich las zuerst Bisky und dann Schulz. Wenn schon eine Biografie, dachte ich, dann lieber den Literaturprofessor, der so viel mehr weiß - der beispielsweise genau weiß, was, im Unterschied zu Kant, der Philosophieprofessor, den Wilhelmine von Zenge dann statt ihres Wuschels geheiratet hat, von der Ehe dachte. Aber je länger ich den so kenntnisreichen und schön formulierenden Literaturprofessor las, um so dringender stellte sich die Frage, ob man das alles wissen muss?

Es klärt ja nichts, das Wissen. Es weigert sich, zu einem einheitlichen Bild zusammenzutreten. War Kleist schwul? Die entsprechenden Sätze aus dem berühmten Brief an Ernst von Pfuel scheinen eindeutig. "Ich habe deinen schönen Leib oft, wenn du in Thun aus dem See stiegest, mit wahrhaften mädchenhaften Gefühlen betrachtet Dein kleiner, krauser Kopf, einem feisten Halse aufgesetzt, zwei breite Schultern, ein nerviger Leib, das Ganze ein musterhaftes Bild der Stärke, als ob du dem schönsten jungen Stier, der jemals dem Zeus geblutet, nachempfunden wärest." Pfuel entdeckte das Schwimmen als Technik der soldatischen Körperertüchtigung; 1848 war er Polizeipräsident von Berlin, "wo er jedoch", wie Meyers Konversationslexikon von 1888 missbilligend vermerkt, "während der Revolutionstage nicht die gewünschte Energie entwickelte."

Außer dem Liebesbrief an Pfuel deutet nichts auf Kleists Homosexualität. Dass er mit der schwärmerisch angeschriebenen Wilhelmine von Zenge Geschlechtsverkehr hatte, ist sehr unwahrscheinlich. Hatte er überhaupt jemals Geschlechtsverkehr? Oder fällt womöglich diese Frage auf denjenigen zurück, der sie stellt, und verrät bloß seine Anhänglichkeit gegenüber den Theorien eines gewissen Sigmund Freud, der dem Sexualleben einer Person die Wahrheit über sie ablesen wollte?

Gerhard Schulz und Jens Bisky verfolgen unabhängig voneinander dieselbe Strategie: Kleist lässt sich nicht enträtseln. Immer wieder weisen sie Deutungen, die andere versucht haben, zurück - insbesondere natürlich, wenn es darum geht, ob sich Parallelstellen zwischen dem Werk und der Lebensgeschichte entdecken lassen. Das Zentrum bleibt leer.

Man kann das als aktuelle Form des Geniekults verstehen. Das Genie gibt der Natur die Regel vor und befindet sich so außerhalb allen Regelwerks, das wir kennen. Das Genie ist nirgends anschlussfähig; die Wahrheit ist, dass Kleist auf Erden nicht zu helfen war - erst im Jenseits seiner Wirkungsgeschichte erntet er unsterblichen Ruhm. Freilich liegt dem Feuilletonredakteur ebenso wie dem Literaturprofessor die einfache Dichterverhimmelung ganz fern.

Man kann das Problem im Genre der Biografie sehen, der im Deutschen anhaltend Verachtung entgegenkommt. (Was man mit dem Geniekult erklären kann, der in Deutschland so lange grassierte: Welche Vermessenheit, Kleists Wunderwerke aus seiner Lebensgeschichte herleiten, mit ihr nur verknüpfen zu wollen!)

Nicht nur bei dem weisen alten Literaturprofessor, auch bei dem weit lockerer erzählenden Bisky kommt im Leser irgendwann Unlust auf. Beide Biografen verzichten auf integrierende Hypothesen zu Kleists Leben und Werk, weisen immer wieder die Hypothesen anderer zurück - doch entwickeln sie keinen erzählerischen Impuls, der die Kraft einer Beweisführung ersetzen könnte. Die Biografie ist kein wissenschaftliches, sondern ein literarisches Genre. Die schönste Shakespeare-Biografie, die ich kenne, stammt von dem Romancier Anthony Burgess, dem wir "Clockwork Orange" verdanken. Er lässt einen vergessen, dass man über das Leben des Barden so gut wie gar nichts weiß.

Jens Bisky: "Kleist. Eine Biographie". Rowohlt Berlin, Berlin 2007, 528 Seiten, 22,90 Euro. Gerhard Schulz: "Kleist. Eine Biographie". C. H. Beck, München 2007, 607 Seiten, 26,90 Euro.

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