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Biller Papers 5 Ich weinte, weil Oriteles Finger sich durch mein Loch tief in meine Seele bohrte: Eine Kritik „in Progress“ zu Maxim Billers neuem Roman „Biografie“Die Jungs haben einen Schaden

Warum, warumwird da so vielonaniert und gevögelt? Und warum geht es da so selten um Nähe und Liebe?

Maxim Biller wollte einen Roman über das20. Jahrhundert schreiben, das Zeitalter der Menschheitsverbrechen, der sexuellen Befreiung und der Psychoanalyse. Insofern verwundert es nicht, dass sein Ich-Erzähler Soli Karubiner erstens gerne Nazivergleiche bei der Hand hat, wenn er etwas beschreiben will, zweitens offenherzig über seine sexuellen Fantasien berichtet, zu denen er onaniert, und drittens ein Freudianisch gesprochen perverses, also genital gestörtes Verhältnis zum Sex hat.

Oritele, die „Königin von Saba und Nord-Tel Aviv“, liebt er erst, „als sie weg war“. Danach erinnert er sich an ihre „schönen, ein bisschen zu kurzen, zu stämmigen Beine“. Was fällt ihm weiter ein? „Ein kleiner Arsch, der trotzdem voller Überraschungen war. Ein ewiger blauer Fleck auf dem Rücken, genau dort, wo sie früher, als sie noch in der Gehenna das siedende Öl für die anderen umrührte, einen Schwanz hatte. Und eine behaarte Stelle auf der linken Schläfe, der erste biologische Atavismus, der mir im Leben untergekommen war.“

Soli leckt Oritele gern die „Pflaume“. Oritele wiederum liebt es, Soli erst ein, dann zwei Finger in den Hintern zu schieben – und das soll wehtun: „Ich weinte, weil Oriteles Finger sich durch mein blitzblankes Loch tief in meine Seele bohrte.“ Sex ist in Billers „Biografie“ unter anderem ein Vorgang, durch den die kindliche Erfahrung von Ohnmacht durchgearbeitet werden. Er ist aber auch ein Ausdruck kollektiver psychischer Prägung, die weiter zurückreicht als eine Generation. „Die irakischen Juden – in Babylon seit Nebukadnezar II. – waren so wenig fein, kultiviert und menschlich wie jeder Nomade, Reiterkrieger, Araber, mit dem sie in dreitausend Jahren einmal ein Geschäft gemacht hatten. Ihre Kultiviertheit war Arroganz, Misstrauen. Sie lauerten immer nur auf die richtige Chance, den anderen zu besiegen. Und wenn es der eigene Ehemann war.“ Oritele besiegt Soli mit ihrem lubrifizierten Finger.

In diversen Verrissen und darauf folgenden Verteidigungen dieses Romans ging es beinahe obsessiv um seine Fülle sexueller Handlungen und Fantasien. Eine der dabei gestellten Fragen lautete: Wozu das Ganze? Wozu die vielen (womöglich gar noch jiddischen!) Synonyme für das Pitschkale und den Dudek? Warum, warum wird da so viel onaniert und gevögelt? Und warum geht es da so selten um Nähe und Liebe, aber dafür oft um sadomasochistisch gefärbte Projektionen? Die Frage ist richtig gestellt, die allgemeine Antwort darauf bereits oben zu finden.

Richtig ist auch die Kritik, dass es bei der Ausarbeitung der psychologischen Tiefe der Frauenfiguren noch viel Luftnach oben gegeben hätte, wie der Sportreporter sagt.

Einem Autor muss man aber zugestehen, dass er einen bestimmten Aspekt seiner Geschichte nicht weiter verfolgt. Weil er davon keine Ahnung hat. Weil es ihn nicht interessiert. Oder weil es ihm für das, was er erzählen will, schlicht nicht wichtig erscheint. Meine These zugunsten des Autors ist diese: Dieser Roman handelt von Männern, die nicht erwachsen werden können. Denn die Billerschen Hauptfiguren, die Freunde Soli und Noah, haben einen Schaden, den ihre Eltern verursacht haben. Dieser Schaden ist nicht nur biografisch wirksam, sondern steht womöglich beispielhaft historisch für das Problem von Männlichkeit bei vielen, die ins 20. Jahrhundert hinein geboren wurden.

Psychoanalytisch betrachtet ist der schlagende Vater der impotente Vater. Seine Autorität wird durch Gewalt nicht bestätigt, sondern beschädigt. Soli erfährt die Gewalt direkt, Noah indirekt, weil sein Vater die gewalttätigen Kinderfrauen gewähren lässt.

Soli und Noah sind auch als Männer nie so recht ihrer Pubertät entwachsen. Sie sind jüdische Jungs geblieben, nie ganz Männer geworden, weil ihre Väter trotz aller Härte schwach sind. Dieser Mangel wird zwar am deutlichsten, wenn sie Sex haben, ist aber auch sonst nur schwer zu übersehen. Noch relativ am Anfang dieses Buchs, nach gut 200 Seiten, stellt sich also die Frage: Wann tritt die Mutter auf? Ulrich Gutmair

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