Bildungsforscher zum Erasmusprogramm: „Ein Urlaub mit netten Leuten“
Die Absicht im Ausland zu studieren ist durch das Erasmus-Programm nicht gestiegen, sagt Bildungsforscher Christoph Ehmann. Das Programm setzte auf Quantität statt auf Qualität.
taz: Herr Ehmann, das Erasmus-Programm feiert seinen 25. Geburtstag. Ist das ein Grund zum Feiern?
Christoph Ehmann: Es ist ein Grund zum Nachdenken, ob die Ziele, für die Erasmus gegründet worden ist, überhaupt noch verfolgt werden. Erasmus wurde ins Leben gerufen, um junge Menschen zu Trägern des Europa-Gedankens zu machen. Aber daraus ist zu häufig die Finanzierung eines Urlaubs mit netten Leuten geworden. Der Film „l’auberge espagnole“ hat das anschaulich gezeigt. Die Absicht, im europäischen Ausland wirklich zu studieren, also zu lernen, hat sich durch Erasmus nicht verstärkt. Seit rund 40 Jahren liegt der Anteil der Studierenden, die ernsthaft im Ausland einige Zeit studieren wollen, nahezu unverändert bei 4 Prozent.
Woran liegt das?
Ein Grund ist, dass man in der Europäischen Kommission seit Jahren auf Quantität statt auf Qualität setzt. Ursprünglich sollte der Auslandsaufenthalt ein Jahr dauern. Mittlerweile sind es sechs oder sogar nur fünf Monate. Es wird sogar erörtert, den Mindestaufenthalt von drei Monaten noch zu unterschreiten. Wie soll man in so einer kurzen Zeit Sprache und Kultur kennenlernen? Das führt dazu, dass die Erasmus-Studenten unter sich bleiben, aber kaum etwas von ihrem Gastland erfahren.
Aber es gibt doch vorbereitende Sprachkurse.
Jahrgang 1943, ist Honorarprofessor für Erwachsenenbildung/Weiterbildung an der Philipps-Universität Marburg. Seit 2004 ist er außerdem ehrenamtlicher Generalsekretär der European University Foundation Campus Europae (Luxemburg). Campus-Europae-Studenten verbringen mindestens zwei Semester im Ausland.
Die existierenden Erasmus-Sprachförderungsprogramme, insbesondere die sogenannten Erasmus Intensive Language Courses, sind völlig unzulänglich. Deshalb sollen sie wohl aus dem neuen Programm „Erasmus for All“ auch herausgenommen werden. Früher mussten die Stipendienbewerber die Sprache des Landes, in das sie wollten, schon vor der Abreise beherrschen. Aber das hat nicht mehr funktioniert, als man die Leute nach Polen, Ungarn oder in die baltischen Staaten geschickt hat. Jetzt bekommen die Studierenden bestenfalls vier Wochen lang vier Stunden täglich Unterricht. Aber danach kann man gerade einmal sein Bier bestellen.
Erasmus-Studenten bekommen 80 bis 200 Euro im Monat. Reicht das?
Nein. Die Mittel decken in der Regel die zusätzlichen Kosten eines Auslandsaufenthalts, in etwa. Aber 50 Prozent der Studierenden in Europa arbeiten, um sich ein Teil ihres Studiums zu finanzieren. Solche Verdienstmöglichkeiten haben sie während des Studiums im Ausland in der Regel nicht. Damit ist die Hälfte der Studierenden von der Teilnahme am Programm so gut wie ausgeschlossen. Es gehen diejenigen, die Bafög und eine Auslandszulage bekommen und die oberen 30 Prozent. Erasmus produziert eine soziale Schieflage.
Was machen Sie anders?
Bei Campus Europae versuchen wir, Studium und Arbeit auch bei einem Auslandsaufenthalt zu verbinden und studiennahe Arbeitsplätze zu finden. Zum Beispiel können Lehramtsstudenten in einer Erwachsenenbildungseinrichtung arbeiten oder Jurastudenten in einer Rechtsanwaltskanzlei.
In Deutschland beschweren sich viele über die verschulte Struktur von Bachelor und Master. Die Kritiker sagen, das verhindere ein Auslandssemester. Stimmt das?
Nein. Das ist für einige eine Ausrede. Auch bevor wir den Bologna-Prozess hatten, war ein Auslandsaufenthalt in der Regel mit dem „Verlust“ von einem Semester verbunden. Das liegt aber vor allem daran, dass zu viele Hochschullehrer ein Auslandsstudium ihrer Studierenden nicht wirklich unterstützen und zum Beispiel die dort erbrachten Leistungen nicht oder nur unzureichend anerkennen. 95 Prozent der europäischen Hochschullehrer waren nach einer Erhebung der European University Association EUA seit der Erlangung des Lehrstuhls nicht mehr für die Dauer eines Semesters an einer ausländischen Hochschule.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört