Bildung in Neukölln: „Kinder kategorisieren nicht“
Die Lehrerin Mahi Christians-Roshanai gibt seit 17 Jahren Nachhilfeunterricht. Ein Gespräch über unentdeckte Talente und ungenutzte Potenziale – und Currywurst.
taz: Frau Christians-Roshanai, Nachhilfeschulen boomen, seit immer mehr Eltern meinen, ihre Kinder in der Schule fördern zu müssen. Sie haben sich in einem Kiez niedergelassen, der BildungspolitikerInnen eher als Wohngebiet bildungsferner Familien gilt, warum?
Mahi Christians-Roshanai: Das ist ein Begriff, den ich gar nicht mag und sehr schwierig finde.
Warum denn?
Weil ich bisher – auch hier – keine SchülerInnen kennengelernt habe, der nicht lernen möchte, der keinen Erfolg in der Schule haben möchte. Und die Eltern möchten das auch, unabhängig davon, aus welchem Elternhaus sie selber kommen. Auch Eltern, die selbst keine Möglichkeit hatten, eine Schule zu besuchen, sind selber keineswegs bildungsfern. Sie wollen, dass ihre Kinder es einmal besser haben, und unterstützen sie auf ihre Art.
Heißt das, viele Ihrer SchülerInnen kommen aus eingewanderten Familien? Denn wer in Deutschland aufgewachsen ist, hat in der Regel eine Schule besuchen können.
70 Prozent meiner SchülerInnen kommen aus Einwandererfamilien, aber oft sind ihre Eltern bereits als Kinder gekommen. Sie stammen aus Albanien, Bosnien, der Türkei, arabischen Ländern – da hatten teils Eltern, die als Kinder in palästinensischen Flüchtlingslagern etwa im Libanon lebten, keine Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Aber für mich sind das alles einfach Kinder, Neuköllner, Berliner, egal woher die Eltern kommen. Und so sehen die Kinder das übrigens auch, sie kategorisieren sich nicht nach Herkunft. Sie solidarisieren sich.
Warum haben Sie sich als ausgebildete Lehrerin mit einer Nachhilfeschule selbstständig gemacht?
Ich habe mich hier vor 17 Jahren niedergelassen, nachdem ich zehn Jahre lang an der Kreuzberger Grundschule Lernförderung gegeben habe, an der ich selbst als Kind war. Und ich möchte hier jedes einzelne Kind möglichst so fördern, dass es die nächste Versetzung und am Ende den Schulabschluss schafft. Deshalb läuft das hier etwas anders als an den großen Nachhilfeinstituten. Wir sind hier immer nur zu dritt in einer Lerngruppe. Und ich bin zuständig für alle Angelegenheiten rund um die Schule, vertrete die Rechte der SchülerInnen und Eltern in der Schule.
Sie haben eine sehr enge Beziehung zu Ihren SchülerInnen.
Ja. 17 Jahre sind eine lange Zeit, ich habe viele meiner SchülerInnen lange begleiten können, oft auch Geschwister und kenne dadurch auch die Familien gut. Einmal im Jahr machen wir hier eine Weihnachtsfeier, zu der auch viele ehemalige SchülerInnen kommen, da sind manche schon um die 30 und lernen dann hier die Jüngeren kennen. Ich vernetze die SchülerInnen und auch die Eltern untereinander. Ich habe sogar eine Schülerin, deren Mutter ich schon unterrichtet habe.
Die Frau: 1970 als Tochter iranischer Einwanderer in Berlin geboren. Wird von ihren SchülerInnen meistens Maja genannt – das ist der Name der kleinen Nachhilfeschule „Schülerhilfe Maja“, die die Lehrerin seit 17 Jahren betreibt.
Die Nachhilfeschule: Nicht weit vom U- und S-Bahnhof Hermannstraße entfernt hilft Christians-Roshanai Neuköllner Kindern und Jugendlichen dabei, den Übergang von der Grund- auf die Oberschule zu bewältigen und Schulabschlüsse zu schaffen. Dafür pflegt sie intensiven Kontakt zu den Schulen und LehrerInnen und vertritt die Rechte ihrer Schützlinge, die zu 70 Prozent aus eingewanderten Familien stammen. Ein Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungsstand der Eltern und Lernfähigkeit oder -begeisterung der Kinder habe sich ihr aber bislang nicht erschlossen, sagt Christians-Roshanai, die sich von 2011 bis 2015 auch als grüne Bildungspolitikerin in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung engagierte.
Das Hobby: Privat und zur Ablenkung vom Schulleben widmet sie sich einer speziellen Leidenschaft: Sie erstellt mit ihrem Ehemann eine App über die Berliner Currywurst. (akw)
Zehn Euro kostet hier eine Stunde …
Neun oder zehn Euro.
Das ist nicht viel.
Nein. Reich werde ich nicht. Aber ich mache hier etwas, was mich sehr glücklich und zufrieden macht. Und das kann ich an die SchülerInnen auch weitergeben. Ich wollte immer eine Vermittlerin zwischen Schülern, Eltern und Lehrkräften sein, und das bin ich hier.
Sie sagten, Sie hätten nach dem Studium an der Grundschule unterrichtet, an der Sie selbst Schülerin waren. Sind Sie Neuköllnerin?
Ich bin aus Neukölln, bin hier aufgewachsen und lebe und arbeite hier. Aber ich bin in Kreuzberg in die Kita und zur Grundschule gegangen, weil meine Mutter dort im Urban-Krankenhaus als Hebamme arbeitete und uns Kinder in der Nähe unterbringen wollte. Später habe ich an meiner alten Grundschule dann mit meinen eigenen ehemaligen LehrerInnen zusammengearbeitet.
Aber das Unterrichten im Schulsystem war nicht Ihr Ding?
Was ich jetzt mache, kann ich besser.
Was können Sie hier anders machen als an einer Schule?
Ich kann auf jeden Einzelnen und ihre oder seine Lernbedürfnisse eingehen. Es ist schon ein großer Unterschied, ob man drei oder 23 oder gar 30 Schüler in einer Lerngruppe hat. Ich habe hier auch keine homogenen Gruppen, manche SchülerInnen sind sehr stark, andere schwächer. Aber ich kann switchen und mich auf die Kinder einstellen, was in der Schule eigentlich jede/r LehrerIn machen möchte, was dort aber aufgrund der Rahmenbedingungen nicht immer möglich ist. Ich fülle damit eigentlich eine Lücke und habe so die Möglichkeit, den LehrerInnen in den Schulen zuzuarbeiten und gleichzeitig SchülerInnen zum Schulerfolg zu führen. Und ich muss ja auch Erfolg bringen. Das erwarten meine SchülerInnen – und ihre Eltern.
Gibt es auch SchülerInnen, an denen Sie scheitern?
Ich habe jetzt zum ersten Mal eine Schülerin nicht durch das Probejahr auf dem Gymnasium bringen können. Das war bislang noch nie der Fall. Aber wir wussten von Anfang an, dass der Druck für sie sehr hoch sein und sie dem eventuell nicht gewachsen sein würde.
Geht Ihnen das nahe?
Ich bin schon enttäuscht – auch, weil die Gespräche in der Schule des Mädchens nicht so kooperativ waren, wie ich es mir gewünscht hätte. Jede/r SchülerIn hat ja auch eine Familiengeschichte, und dieses Mädchen hatte da noch andere Baustellen. Und da kann an Gymnasien weniger Rücksicht drauf genommen werden.
Sie haben also Kontakt zu den Lehrkräften Ihrer Schüler?
Ja. Ich habe in den 17 Jahren Kontakt zu sehr vielen Schulen und Lehrkräften aufgebaut, und das läuft meistens sehr gut. Die Eltern müssen mir dafür eine Erlaubnis geben, und oft melden sich die LehrerInnen dann auch bei mir. Dann setzen wir uns zusammen und reden, und das führt auch oft zu einem Perspektivwechsel aufseiten der KollegInnen an den Schulen.
Eine Studie hat kürzlich belegt, dass selbst Lehrkräfte mit den besten Absichten SchülerInnen mit Migrationshintergrund teils unbewusst benachteiligen, etwa, indem sie sie im Unterricht seltener aufrufen. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Ja, es gibt Benachteiligung, und das auf verschiedene Art und Weise. Ein Beispiel: Was ich weiß, ist, dass SchülerInnen mit Migrationshintergrund – auch so ein Wort, dass ich eigentlich nicht mag –, seltener Prognosen für das Gymnasium ausgestellt werden als anderen. Ein anderes Beispiel: Es sind in Neukölln vor allem SchülerInnen mit Migrationshintergrund, die das Probejahr nicht bestehen.
Was sind die Gründe dafür?
Ich glaube, viele KollegInnen machen sich Gedanken darüber, wer dem Kind helfen kann, wenn es auf dem Gymnasium nicht mitkommt. Aber da kommt eigentlich die Schule selbst ins Spiel: Wenn ich weiß, dass zu Hause nicht geholfen werden kann, muss ich eben innerhalb der Schule alles versuchen, um dem Kind gleiche Chancen zu ermöglichen. Meine SchülerInnen sprechen bis zu vier Sprachen – sie sind voller Potenziale.
Was kann denn Schule da mehr tun?
Etwa die Möglichkeit schaffen, dass Hausaufgaben in der Schule gemacht werden können und dabei auch entsprechende Hilfestellung vorhanden ist. Das muss sich ändern, finde ich.
Es gibt doch extra Ganztagsschulen dafür.
Aber auch meine GanztagsschülerInnen kommen alle mit Hausaufgaben, und auch mit schwierigen. Da müsste man in der Schule ein genaueres Auge drauf haben. Und Gymnasien sind mit wenigen Ausnahmen, in Neukölln etwa dem Albert-Schweitzer-Gymnasium, keine Ganztagsschulen.
Laut Schulgesetz trägt die Schule die Verantwortung für den Bildungserfolg der Kinder. Gleichzeitig wird den Eltern viel Verantwortung aufgebürdet, auch von BildungspolitikerInnen. Sie waren ja selbst mal die bildungspolitische Sprecherin für die Grünen in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung.
Ich habe das Mandat niedergelegt, weil ich beides nicht mehr unter einen Hut bekommen habe und wieder mehr Zeit für meine Arbeit hier bei Maja haben wollte.
Ihre Eltern stammen aus dem Iran – eine Einwanderergruppe, die in Deutschland als sehr bildungsaffin gilt.
Ja. Aber ich habe immer versucht, mich davon nicht beeindrucken zu lassen, weil damit ja auch verbunden ist, dass andere Einwanderergruppen weniger gebildet seien, was ja so nicht stimmt. Kinder gehen ja nach der Schule immer wieder nach Hause. Man darf ihnen nicht das Gefühl geben, dass ihre Eltern weniger wert seien, weil sie keine akademische Ausbildung haben. Das finde ich ganz wichtig, dass der Hintergrund der Kinder nicht gewertet wird. Und letztlich weiß die Schule ja auch sehr wenig darüber. Es gibt Eltern, die arbeiten hier nicht, obwohl sie eine akademische Ausbildung aus dem Herkunftsland haben, die hier aber nicht anerkannt wird.
Wie viele SchülerInnen haben Sie?
Im Moment etwa 30. Das sind nicht viele, aber ich wollte auch nie ein Massenunternehmen sein. Die Kleinste ist im Moment 7, der Älteste ist 18 Jahre alt, und sie kommen von der Grundschule und allen Oberschultypen. Bei vielen geht es um Schulabschlüsse oder um den Übergang von der Grund- auf die Oberschule.
Unterrichten Sie die alle selbst?
Ja, hauptsächlich. Und ich habe immer eine Honorarkraft, eine Lehramtsstudentin, die Mathe unterrichtet. Für viele davon war die Arbeit hier auch eine Motivation, später nach dem Studium an eine Neuköllner Schule zu gehen, was mich immer sehr freut.
Sie posten oft auf Facebook kleine Beobachtungen, die Sie gemacht haben, teils mit Ihren SchülerInnen, teils aber auch in der Öffentlichkeit. Meist geht es um Ungerechtigkeit oder Missachtung, die die Kinder erfahren …
Es geht mir darum, die Kinder und Jugendlichen zu schützen.
Wovor?
Davor, dass sie schlecht behandelt werden, das gefällt mir nicht. Wenn ich im Bus erlebe, dass SchülerInnengruppen, die laut sind, ganz anders angegangen werden, weil sie schwarze statt blonde Haare haben – das ärgert mich. Das ist eine Ungerechtigkeit. Dann greife ich auch ein.
Wie?
Ich rede mit den SchülerInnen, aber auch mit den Erwachsenen, die die SchülerInnen angreifen. Oder mit den BusfahrerInnen, die gleich die Türen aufmachen und die Jugendlichen rauswerfen wollen. Ich kann dann gar nicht anders.
Neben diesem Engagement auch im Privaten, bleibt Ihnen da noch Zeit für die Beschäftigung mit anderen Dingen?
Ja!
Was denn?
Für das Buckower Lokalblatt Prisma schreibe ich eine Kolumne zum Thema Bildung. Und ich habe mit meinem Mann eine App entwickelt: den Curry Guide Berlin.
Es geht um Currywurst?
Ja, um die traditionelle Berliner Currywurst und all die tollen Angebote, die es da mittlerweile gibt, vegane Wurst, solche aus Hühnerfleisch … Da wollten wir mit der App BerlinerInnen und TouristInnen die Möglichkeit geben, das alles kennenzulernen. Und es geht um Herkunft: Bei der Currywurst ist es mir tatsächlich wichtig, auch zu wissen, wo die Zutaten herkommen.
Sie sagen, Kinder wollen lernen. Das heißt aber nicht, dass alle gern zur Schule gehen. Und dann noch Nachhilfe – ist das nicht zusätzlicher Stress für die SchülerInnen?
Nein, denn sie lernen bei mir, dass sie täglich das Ruder selbst herumreißen können. Es ist mir ein ganz wichtiger Punkt, meinen SchülerInnen beizubringen, dass sie für ihren Lernerfolg auch selbst verantwortlich sind. Klar gibt es Klagen über die Schule, über die LehrerInnen. Ich versuche, ihnen beizubringen, sich davon freizumachen.
Inwiefern?
Indem sie nicht sagen: Ich bin in dem oder dem Fach schlecht, weil der Lehrer mich nicht mag. Sondern sich zu sagen, auch wenn der manchmal ungerecht ist, kann ich trotzdem gut in Mathe sein. Das hat nichts miteinander zu tun. Ich helfe den SchülerInnen auch dabei, ihre LehrerInnen darauf anzusprechen, wenn sie sich von ihnen ungerecht behandelt fühlen. Damit sie lernen, ihre Rechte zu vertreten.
Wie denn zum Beispiel?
Na ja, es ist vielleicht manchmal taktisch besser, einen wütenden Lehrer nicht vor der ganzen Klasse zur Rede zu stellen, sondern hinterher hinzugehen und ihn unter vier Augen zu fragen: Was habe ich da falsch gemacht? Dann kann man auch sagen: Ich habe Ihre Reaktion als ungerecht empfunden. Und dann reflektieren Lehrkräfte manchmal auch ihr Verhalten anders, wenn sie die Perspektive der SchülerInnen sehen.
Sie übernehmen damit auch sehr viel Verantwortung.
Ja, ich will ja auch etwas erreichen. Ich will die SchülerInnen auch herausfordern. Sie sind unsere Zukunft.
Können Sie sich vorstellen, wieder an einer Schule zu unterrichten?
Ich tue das ab und zu als Vertretung und fest im Bereich der Lernförderung. Und das macht mir viel Spaß. Aber ganz kann ich mir das momentan nicht vorstellen – weil ich dann das, was ich jetzt hier mache, nicht mehr machen kann.
Was müsste sich an den Schulen ändern?
Sie müssten saniert und schöner werden, die Klassen müssten kleiner sein. Das setzt natürlich voraus, dass man ausreichend Lehrpersonal und auch Räume dafür hat. Und ich wünsche mir, dass alle Kinder, die es brauchen, kostenfrei Lernförderung bekommen – nicht nur die, die einen Berlinpass haben. Und dann würde ich mir natürlich wünschen, dass alle Kinder an allen Berliner Schulen auf schöne und saubere Toiletten gehen können.
Waren Sie eigentlich eine gute Schülerin?
Ja, in der Grundschule. In der Oberschule gab es auch Baustellen. Aber ich habe mich nie ausschließlich über meine schulischen Leistungen identifiziert. Ich habe immer gedacht, dass es auch andere wichtige Werte gibt – und das denke ich auch heute noch.
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