Bewegungsunfähige Kinder: "Die können nichts mehr"
Kinder bewegen sich schon. Mit dem Daumen auf der Playstation. Wen wunderts, dass auch dem Turnen der Nachwuchs wegbricht. Deshalb startet der Turnerbund eine Kampagne.
BERLIN taz "Die bewegen sich schon", sagt Angelika Lehmann, "und zwar so." Ihr Daumen macht eine leichte Bewegung, so als würde sie eine Fernbedienung betätigen. "Mehr machen die nicht." Angelika Lehmann macht eine wegwerfende Handbewegung. Playstation und Fernseher seien schuld daran, dass Kinder immer schlechter mit ihrem Körper umgehen könnten. 26 Jungen und Mädchen im Vorschulalter stellen sich entlang einer Linie in der Turnhalle auf, in der sie einmal in der Woche zum Training zusammenkommen, während die Leiterin der Turnabteilung des Berliner Vereins Empor Köpenick über ihr Kita-Projekt spricht. "Da kann man schon eine Entwicklung sehen", sagt sie. "Die wissen wenigstens jetzt, wie man sich ordentlich aufstellt."
"Kinderturnen macht clever und fit", so heißt die Kampagne des Deutschen Turnerbundes (DTB), die seit Oktober letzten Jahres läuft. Gestern zog DTB-Präsident Rainer Brechtken in Berlin eine Zwischenbilanz der Aktion, die noch bis zum Turnfest 2009 fortgeführt werden soll. 1.820 Vereine, 571 Kindergärten und 268 Schulen haben sich bisher an der Aktion beteiligt. Über 200.000 Jungen und Mädchen konnten sich an sogenannten "Kinderturntagen" mit ihrem Körper vertraut machen. Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey, der im Auftrag der Bundesregierung vom Robert-Koch-Institut durchgeführt wurde, hatte 2006 ergeben, dass nur 30 Prozent der Jungen und Mädchen sich ausreichend bewegen. Die Kinderturnkampagne ist eine Reaktion auf diese alarmierenden Ergebnisse. Schirmherrin der Kampagne ist Familienministerin Ursula von der Leyen. Weitere Informationen finden sich unter www.kinderturnen.de TAZ
Mehr als zwei Jahre organisiert Angelika Lehmann nun schon die Zusammenarbeit von Kindertagesstätten mit ihrem Verein. Ihr Klub stellt einen Übungsleiter zur Verfügung, der einmal in der Woche mit den Kindergartenkindern trainiert. Die Erzieherinnen des "Hauses der kleinen Strolche" in Berlin-Köpenick bringen die Kleinen in die Turnhalle einer benachbarten Schule. Dort werden sie von Franziska Gweckow trainiert. Seit zwölf Jahren turnt sie mit Kindern, erzählt sie. Immer schlechter seien die über die Jahre geworden. Beinahe übellaunig wird die strenge Übungsleiterin, wenn sie über die Leistungsfähigkeit der Kinder von heute spricht. "Ich muss die Übungen immer leichter machen", sagt sie. "Die können nichts mehr. Die können nicht einmal mehr über eine Teppichfliese rüberspringen." Plötzlich wirkt sie sehr kämpferisch. "Aber ich kriege sie", sagt sie, "das ist mein Ehrgeiz."
Sie erzählt von Jasmin. Übergewichtig sei die gewesen, konnte nicht richtig laufen, an Springen, ans Hüpfen gar auf einem Bein war nicht zu denken. An die Eltern sei sie zunächst gar nicht rangekommen. "Die sind ein Sozialfall", sagt Franziska Gweckow. Jetzt berichtet sie stolz, sei Jasmin fit - zumindest für die Schuluntersuchung. Bei dieser wird auch getestet, ob ein Kind auf einem Bein hüpfen kann.
"Wo hast du hingeschaut?", fragt Steffen Gödicke eine seiner Elevinnen. Die hat sich gerade an einer Flugeinlage am Stufenbarren versucht. "Was hast du gesehen?", will er von der kleinen 13-Jährigen wissen, die gerade nach einem misslungenen Versuch in die mit Schaumstoffschnitzeln gefüllte Grube unter dem Stufenbarren gefallen ist. "Ein bisschen mehr", sagt Gödicke, Trainer in der Berliner Turntalentschule Maxi Gnauck, und macht eine Handbewegung. Zusammen mit der Geste versteht die Turnerin den unvollständigen Satz ihres Trainers. "Ich weiß schon", sagt sie. Darauf der Trainer: "Dann mach auch." Gödicke sagt das ganz sanft. Als Trainer von Leistungsturnerinnen muss er ein Pedant sein, ein General ist er nicht.
Während er die großen Mädchen am Stufenbarren betreut, rennen zehn Achtjährige in ihren Gymnastikanzügen über die Bodenmatte, machen Rollen, schlagen Räder. Auch sie benötigen keine lauten Kommandos. Sie wissen, was ihre Trainerin von ihnen will. Katrin Kewitz betreut eine Gruppe von Schulanfängerinnen in der doch arg in die Jahre gekommenen Frauenturnhalle im Sportforum Hohenschönhausen im Norden Berlins, da, wo einst etliche Turnerinnen der DDR-Riege ihre Techniken eingeübt haben. "Wir müssen die Kinder ja auch bei der Stange halten", so Katrin Kewitz, die selbst jahrelang Spitzenturnerin, immerhin deutsche Meisterin war. Viele Mädchen streben nicht zum Geräteturnen. Als der Berliner Turnerbund am vergangenen Wochenende zu einer Leistungsüberprüfung gerufen hat, trat in der Altersklasse der Zehnjährigen nur ein einziges Mädchen an. Bei den Sechsjährigen waren es immerhin noch 50.
"Turnen ist eben ein aufwändiger Sport", erklärt Steffen Gödicke. "Während man beim Fußball vielleicht zehn Techniken lernen muss, sind es beim Turnen 1.000 - und das ist jetzt nicht übertrieben." Die Sechsjährigen trainieren bis zu dreimal die Woche zwei bis drei Stunden. Die Siebenjährigen haben schon eine viertägige Trainingswoche. Die drei 13-jährigen Mädchen, mit denen Gödicke an diesem Tag trainiert, sind Internatsschülerinnen an der Eliteschule des Sports gleich hinter der Trainingshalle. Die Vierte aus dieser Trainingsgruppe kommt jeden Tag aus Charlottenburg. Ihre Eltern fördern mit ihren Fahrdiensten die Leistungssportkarriere ihrer Tochter. "Die kommt jetzt schon auf eine 70-Stunden-Woche", rechnet Trainer Gödicke vor.
Ohne das Engagement, den Ehrgeiz der Eltern, gäbe es gar keinen Nachwuchs bei den Leistungsturnerinnen. Die Turntalentschule Maxi Gnauck - die den Namen der Berliner Olympiasiegerin, die 1980 in Moskau am Stufenbarren triumphiert hat, trägt - ist angewiesen auf Eltern, die ihr Kind zur Leistungssportlerin machen wollen, die ihre Tochter für agil und stabil genug halten, die keine Angst vor der zerstörerischen Kraft des Leistungsturnens haben. Nicht selten haben die Eltern selbst einmal geturnt. Die kleine 13-Jährige, die nach ein paar vergeblichen Versuchen endlich ihre Flugübung am Stufenbarren mit dem sicheren Griff an die Stange beendet, heißt Nathalie Wecker. Ihr Vater, Andreas, war 1996 Olympiasieger am Reck.
Steffen Gödicke würde vielen Eltern gerne die Angst vor dem Geräteturnen nehmen. Für "medial aufgebauscht" hält er die Gefahren, die angeblich vom Kunstturnen ausgingen. Wer in die Turntalentschule komme, so erklärt er, bekomme erst einmal eine athletische Grundausbildung. "Erst wenn die Kraft da ist, werden die schwierigen Übungen geturnt", sagt der Trainer. Die Kinder werden frühzeitig untersucht. Speziell der Rücken wird gescannt. Es soll ausgeschlossen werden, dass, wer einen Schaden an der Wirbelsäule hat, regelrecht über die Schmerzgrenze hinaus trainiert wird. Dann sagt Gödicke: "Durch das Krafttraining ist das Wachstum natürlich retardiert." Aber auch das soll Eltern keine Angst machen. Wenn das harte Training aufhöre, "dann wachsen die schon noch".
Von den vielen mitgliederstarken Turnvereinen der Stadt erwartet sich Gödicke keinen Nachwuchs. Der Leistungssport ist völlig abgekoppelt von den zahlreichen Kindersportangeboten in den Klubs. "Geräteturnen ist viel zu teuer für einen Verein, wie wir einer sind", meint Angelika Lehmann, die bei Empor Köpenick neben dem Kinderturnen vor allem Gesundheitssport anbietet. Nur so könne der Klub überhaupt überleben, erklärt sie. "Wir sind kein Dorfverein, in dem man ein Leben lang Mitglied ist."
Empor funktioniert wie viele Großstadtvereine der Republik als sportlicher Dienstleister. Wer Mitglied wird, erwartet ein bestimmtes Angebot. Gibt es das Angebot nicht mehr, endet meist auch die Mitgliedschaft. Auch die Kinder, die sich gerade auf Teppichfliesen kniend durch die staubige Schulturnhalle schieben, sind Mitglieder des SV Empor Köpenick. 5,50 Euro kostet das jeden Monat. Nicht alle Eltern der Kindergartenkinder können sich das leisten. Die Kita liegt nicht in einer der vornehmen Ecken Berlins. Etwa fünf Kinder pro Gruppe werden vom Verein "mitgezogen", wie Angelika Lehmann sagt. Für sie müssen die Eltern keinen Beitrag zahlen. So werden sie wenigstens im Kindergartenalter ein wenig bewegt. Zu viele "Sozialfälle" dürfen allerdings nicht in der Gruppe sein. Sonst kann die Übungsleiterin nicht finanziert werden.
Die ist vor allem traurig, dass mit Schulanfang Schluss ist mit der Förderung. "Wir können die Kinder nicht im Verein halten", sagt Franziska Gweckow. Talentierte Kinder empfiehlt sie dem benachbarten Leichtathletikverein, auch einmal einem Fußballklub. Für die meisten Kinder jedoch endet die sportliche Freizeitbetätigung mit dem Schuleintritt. Angelika Lehmann zeigt wieder ihren Daumen.
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