Bewegung: Die neuen Krachmacher

Der Flugroutenstreit politisiert viele Menschen zum ersten Mal. Wissenschaftler bezweifeln aber, dass ihr Protest von Dauer ist.

Keine Protestbewegung kommt dieser Tage ohne einen Verweis auf Stuttgart 21 aus. Bild: dapd

Martin Henkel ist erleichtert: Endlich hat seine Bürgerinitiative ein Büro. Bis vor Kurzem quollen Tag für Tag Mitgliedschaftsanträge aus Henkels Briefkasten. Er ist Vorsitzender des Bündnisses "Zeuthen gegen Fluglärm". Rund 1.600 Bürger sind in den vergangenen zwei Monaten beigetreten, schätzt Henkel. Die Mitglieder zahlen zwar keinen Beitrag, aber trotzdem sagt der große Zulauf viel aus über die Stimmung in Orten, die auf einmal mit massivem Fluglärm vom künftigen Großflughafen BBI in Schönefeld rechnen müssen. Denn in Zeuthen, einer Gemeinde am südöstlichen Rand von Berlin, leben gerade einmal 10.000 Menschen. "Es wollen sich mehr engagieren, als möglich ist", sagt Henkel, der - wenn er sich nicht mit Flugrouten befasst - in Berlin als Versicherungsmakler arbeitet. "Anfangs waren die Bürger orientierungslos. Jetzt sind sie einfach nur noch wütend."

Zeuthen gehört zu den Orten, die am stärksten vom Lärm betroffen wären, wenn Starts und Landungen des BBI auf den Routen abgewickelt würden, die die Deutsche Flugsicherung (DFS) im September überraschend vorgestellt hat. Bislang glaubten die Zeuthener, sie blieben weitgehend verschont. Viele hatten die Routen genau studiert, bevor sie herzogen.

Nun geht halb Zeuthen auf die Straße, viele der Lärmgegner zum ersten Mal. Auch Henkel war politisch noch nie aktiv, sagt er. Aber auf einmal spricht der Mann mit dem braunen Sakko, dem braunen Pullover, der braunen Hose und der braunen Brille vor tausenden Demonstranten. Es sind vor allem Familien, die vor dem Berliner Großstadtlärm in das "Paradies im Grünen" geflüchtet sind, wie die Gemeinde sich selbst gern nennt. Zeuthen gehört zu den jüngsten Orten Brandenburgs, mehr als 2.000 Kinder leben hier.

Auch die Mattings sind aus Berlin hergezogen. Für Steffi, die 39-jährige Grafikerin, geht es nicht einfach nur um Lärm. Wenn die Mutter von zwei Kindern über das Thema spricht, wirkt es, als ginge es um ihre blanke Existenz. Mit ihrem Mann hat sie sich hier ein Haus gebaut. "Es war einfach alles perfekt. Wir wollten hier Wurzeln schlagen." Sie schwärmt davon, dass sie es nur 500 Meter bis zum Zeuthener See haben, dass ihre Kinder hier alle möglichen Wildtiere kennenlernen. Die Wahlheimat ist eine heile Welt für sie: "Die Kinder hier haben noch ganz andere Umgangsformen. Wenn sie auf Großstadtkinder treffen, sind sie richtig geschockt." Jetzt fühlt sie sich betrogen von der Politik und von der DFS. Sie hat Angst, dass es bald vorbei sein könnte mit dem Idyll.

Sollten die Flugzeuge in zwei Jahren tatsächlich ihr Haus überfliegen, dann will Matting wegziehen: "Ganz weit weg. Raus aus Deutschland." Die Initiative hat berechnet, dass die Maschinen den Ort in 600 bis 1.000 Meter Höhe überfliegen werden. Ein Kilometer Flughöhe hätte bei einer startenden Boeing 737 einen Schallpegel von 79 Dezibel zur Folge. Das entspricht einem Bus, der mit 60 Stundenkilometern in 25 Metern Entfernung am Haus vorbeifährt. Bei 500 Metern Flughöhe wäre der Lärm genauso laut wie bei einem 100 Stundenkilometer schnellen Güterzug, 86 Dezibel. Die Zahlen stammen vom Brandenburger Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft.

Für Steffi Matting geht es auch um Demokratie. "In Zeuthen herrscht gerade eine Stimmung wie in der DDR vor dem Mauerfall", glaubt sie. Ein ganz neuer Zusammenhalt sei entstanden, zum ersten Mal hätten die Zeuthener ein gemeinsames Ziel. Die Grafikerin hat Angst, dass die Proteste bald gewalttätig werden könnten. Wenn man sie so reden hört, klingt es, als stehe die Revolte kurz bevor. Einige Demonstranten sprechen von "BBI 21" und hoffen, dass sich in Berlin eine ähnliche Protestbewegung gegen den Flughafen formiert wie gegen das Bahnhofsprojekt in Stuttgart. Ist das Größenwahn? Hat der Protest tatsächlich das Zeug für eine Massenbewegung oder wird er nicht einmal den Winter überstehen?

Der Berliner Protestforscher Dieter Rucht hält es für Taktik, dass die Lärmgegner über die bedrohte Rechtsstaatlichkeit sprechen, wenn es eigentlich um die Flugrouten geht. "Die Demonstranten wollen ihre eigene Betroffenheit nicht so sehr in den Mittelpunkt des Protests stellen. Ein reiner Ich-Bezug würde nicht ausreichen für eine Bewegung", meint Rucht. Er selbst bezweifelt stark, dass es eine Neuauflage der Stuttgart-21-Proteste in Berlin geben wird. Die Bewegung werde nur noch ein Stück weit wachsen, dann kämen die Interessengegensätze der Lärmgegner zum Tragen: "Es fehlt eine gemeinsame Grundsatzfrage für einen Massenprotest." Das könnte laut Rucht die Forderung nach einem Baustopp sein. Die meisten Initiativen gegen Fluglärm haben sich aber klar von dieser Position abgesetzt.

Andererseits: Bislang sind die Bürgerproteste ausgesprochen stabil. In Lichtenrade gehen schon seit sieben Wochen Montag für Montag Tausende auf die Straße, sogar bei Regen. In Stahnsdorf, einem 14.000-Einwohner-Städtchen südwestlich von Berlin, kamen am 20. November 8.000 Menschen zur Demo. Für ihre Protestkultur sind diese Orte nicht gerade bekannt. In Lichtenrade gab es die letzte Demonstration vor 31 Jahren, erinnert sich ein ehemaliger Pfarrer, der dabei war. Damals ging es gegen den Nato-Doppelbeschluss.

Für den Soziologen Jochen Roose ist das Entscheidende, dass überhaupt eine Protestinfrastruktur geschaffen wird. "Wenn einmal eine starke Struktur da ist, bleibt sie lange erhalten und kann schnell mobilisieren, wenn das Thema wieder akut wird." Gut organisiert sind sie tatsächlich, die Fluglärmgegner. Ein Dutzend der mehr als 30 Initiativen haben sich zusammengeschlossen, das Bündnis verfügt sogar über eine eigene Rechtsabteilung. Dieter Rucht pflichtet Roose bei: "Die Menschen haben sehr starke Motive: Sie sehen als gefährdet an, was sie sich über Jahre aufgebaut haben. Darum werden sie lange durchhalten." Das müssen die Demonstranten auch, wenn sie Druck auf die Politik ausüben wollen. Denn eine Entscheidung über die Routen gibt es voraussichtlich erst 2012.

Auch den Rentner Wilhelm Henry hat der Konflikt um die Flugrouten zum ersten Mal so richtig politisiert. In seinem ganzen bisherigen Leben war der 70-Jährige vier- oder fünfmal demonstrieren, schätzt er, bis er erfuhr, dass die Flugzeuge genau über sein Haus im Waldblick donnern sollen, südlich von Lichtenrade. Vor 16 Jahren hat es der ehemalige Manager gebaut. "Nun werden wir es verlassen müssen, schon wegen der Lungenkrankheit meiner Frau. Die Luft würde sich hier deutlich verschlechtern", sagt Henry. 350.000 Euro habe die beiden das Haus gekostet. Jetzt versucht der Rentner vergeblich, es zu verkaufen. Er rechnet mit Verlusten im sechsstelligen Bereich. Der ehemalige Manager erinnert sich, dass er einmal gegen Atomkraft auf die Straße gegangen ist. Richtig bewegt habe ihn das aber nie. "In dieser Heftigkeit ist es das erste Mal", sagt er. Momentan gehe er zur Demo, so oft er könne.

Die Geschichten der einzelnen Fluglärmgegner ähneln sich. Alle vereint sie die Angst, dass zunichte gemacht wird, was sie sich in vielen Jahren aufgebaut haben. Auch wenn es deshalb nicht zur Revolution kommen wird: Die Wut der Lärmgegner ist groß. Die Frage ist, wie groß sie in zwei Jahren noch ist - wenn die endgültige Entscheidung über die Flugrouten fällt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.