: Bevor sie weg musz
„Und ich schüttelte einen Liebling“ – Das neue Buch der Friederike Mayröcker ist ein Gedenkstein für ihren toten Lebensgefährten Ernst Jandl
VON SILVIA HESS
Schon im Jahr 2001, kurze Zeit nachdem Ernst Jandl, der Gefährte eines halben Jahrhunderts, gestorben war, hat Friederike Mayröcker versucht, den Tod schreibend zu beschwören. „Ein Requiem für Ernst Jandl“ nannte sie damals ihr Klagelied in sechs kurzen Texten. Es war eine einzige verzweifelte Anrufung des Toten. Jetzt, nach langem Warten („es musz von alleine kommen“), setzt sie ihm mit ihrem neuen Buch „Und ich schüttelte einen Liebling“ einen Gedenkstein – ihm und ihrer Mutter.
Es ist ein Buch, das auf das Ganze zielt, und eines, das das letzte Ganze der Sprachartistin hergibt. Dem Geschichten-Erzählen verweigert sie sich – auch diesmal, Anfang und Ende waren nie die Kategorien ihres Schreibens. Wieder entsteht ihr Text durch einen sich fortlaufend erneuernden Sprachfluss. Und wieder gestaltet sich der Strom der Bilder assoziativ flutend, ungebunden durch syntaktische Regeln. Eins ergießt sich ins andere, sich wiederholend immer und immer wieder, und vereinigt sich mit dem schon Vorhandenen. So entsteht diese Sprachwelt, so erschafft die Autorin ihren ganz eigenen (einzigen) Kosmos. Einen, in dem alles auf der gleichen Bedeutungslinie steht. „Sich fortpflanzende Augenerlebnisse“, wie es heißt, rauschhafte Wogen von Wahrnehmungen und Empfindungen.
Man kennt sie von Fotos, ihre Wiener Schreibhöhle, dieses Zimmer bis an die Decke gefüllt mit Büchern, Zetteln, Körben und Körbchen voll von Ausgeschnittenem, Gesammeltem. Es ist ihr Notvorrat. Es ist das Rohmaterial, von dem ihr Schaffen kommt, dieses Schreiben, das sich immer wieder selbst thematisiert. Das textimmanente Reden ist Teil ihres Werks: „in meinem Schosz die Notizblättchen zwitscherten während des Schreibens während ich mich bewege während ich sitze, eine Gedanken Aufregung, ach brüllhaftes Leben, und meine Nerven waren sehr aufgeregt, und die Finger verirrten sich zwischen den Tasten, und ich war hilflos (besessen) und alles rätselhaft in seiner Grundierung.“ An anderer Stelle heißt es: „Es ist fünf Uhr früh ich rolle aus dem Bett und laufe zur Maschine, zwei Stunden später ist der Rausch vorüber.“
Auf den Augenblick, da das Schreiben gelingt, auf den anderen Daseinszustand, einem hellwachen Schlaf ähnlich, hat man zu warten, sagt sie, „alles andere ist Kunsthandwerk“. Musik hilft, sie reißt das Herz auf: Bach – Glenn Goulds Bach – und das Schluchzen der Maria Callas. So, dass sich die ersehnten Momente ereignen können, wo Geist und Körper – Disziplin und Rausch zusammenstürzen. Der Preis ist hoch. Friederike Mayröckers Neuerschaffung der Sprachwelt schlägt Wunden. Wie ein versunkenes Reden, wie ein Gemurmel ertönen die vielen Sätze, die sie an „EJ“ richtet: „mein Buch hat viele Zeugen, sage ich zu EJ, angefangen mit den Gebeten und Tränen, und jetzt bekenne ich es dir in diesem Buch, sage ich zu EJ, dasz ich das Letzte ausspiele das ich zur Verfügung habe, das Allerletzte“.
Sie ist ungetröstet. Ernst Jandls Tod hat ihr Lebensfundament für immer erschüttert. Sie schluckt Medikamente und notiert häufig: „und ich nahm eine höhere Dosis.“ In der Nacht wartet sie, dass EJ in den Träumen zu ihr spricht. Seine Schuhe stehen noch im Gestell. Lokale, die sie mit ihm besucht hat, meidet sie. Und immer wieder erinnert sie diesen Tag, an dem er starb, diesen 9. Juni 2000, als die Sanitäter ihn abholten, weil er kaum mehr Kraft hatte zu stehen. Und sie sieht sich daneben auf ihren Beinen, „unfähig irgendetwas zu tun, ihm die Hand zu halten, ein Trostwort zu sagen, in Tränen aufgelöst, also in Tränen ausbrechend, ohne ihn zu umarmen ein letztes Mal, weil ich nicht wuszte.“ Sie beschönigt nichts, nicht sein langjähriges Herzleiden, nicht seinen Anblick auf dem Totenbett und nicht die eigene Hilflosigkeit vor dem Tod und erst recht unmittelbar danach. Und doch sind diese Aufzeichnungen in ein intimes Licht getaucht. Die gemeinsamen Lese- und Ferienreisen und die sommerlichen Landaufenthalte sind vordergründiger vorhanden. Sie bezeugen diese einmalige Gemeinschaft zweier Künstler, dieses Zusammensein voller Offenheit und voller Geheimnis.
In die Trauer über den Tod mischt sich die Angst. Friederike Mayröcker, die bald 81 Jahre alt wird, hat Angst vor dem Tod. Wird sie ihr nächstes Buch noch schreiben können, das neue, nach dem sie wie jedes Mal schon „Heimweh“ hat? Seit sie weiß, dass sie noch „EIN groszes Buch schreiben will“, bevor sie „weg musz“, hat sie Angst, täglich, stündlich, nur noch Angst. Das sagt sie EJ, in der Nacht, wenn sie nicht schlafen kann, oder tags, wenn sie spürt, dass er „da“ ist. Das sagt sie auch ihren andern fiktiven oder realen Gesprächspartnern. Gertrude Stein, deren Bücher sie jetzt liest, eins ums andere. Oder ihrer alten Ärztin, die Gertrude Stein ähnlich sieht. Und vor allem der Mutter, die schon lange tot ist, deren Leben und Sterben aber das ganze Buch wie ein goldener Faden durchzieht. Auch ihr widmet Friederike Mayröcker ein anrührendes Gedenken.
Am Ende doch ein Trost? (So wie bei Bach, der jedes Moll-Werk auf einem Dur-Akkord enden lässt.) Auf einer der letzten Buchseiten sagt Friederike Mayröcker: „ich … habe ein fast religiöses Vertrauen in meine Sprache.“ Ihr Schreiben, das sich diesmal, wie noch nie, an den Grenzen entlang der Lebenskraft bewegt, fordert dieses Vertrauen. Und verdient es. Restlos.
Friederike Mayröcker: „Und ich schüttelte einen Liebling“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, 239 Seiten, 19,80 Euro