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Betende Muslime während Türkei-Spiel"Alter Schwede, endlich!"

Manchmal muss man als Fan Prioritäten setzen: Erst beten, dann schauen, dann siegen. Ein Besuch in Neukölln.

Gläubige beim Gebet in der Berliner Sehitlik-Moschee. Bild: dpa

BERLIN taz 45 Minuten sind gespielt, die eigene Mannschaft liegt zurück - 0:1 im entscheidenden Spiel. Die Pause ist gleich vorbei, die einen diskutieren lautstark über die - natürlich falsche - Aufstellung des Trainers, die anderen haben sich schweigend in ihre Fahnen gehüllt. Würde ein echter Fan nun auf den Beginn der zweiten Hälfte verzichten? Jetzt, da es um so viel geht? Ja, natürlich. Denn es ist 21.38 Uhr - Zeit für Al-Maghrib, das Abendgebet der Muslime in der Sehitlik-Moschee.

Gerade noch wurde Altintop angefeuert, wie er mit Barnetta um den Ball kämpfte. Es wurde bei siegreichen Zweikämpfen gejubelt, bei vergebenen Torchancen gestöhnt. Jetzt ist der Beamer ausgeschaltet, der Essens- und Kioskraum verschlossen. Nur die Stimme von Imam Mustafa Aydin ist zu hören, ab und an gefolgt von leisen Glaubensbekenntnissen der Betenden. Der Fußball, mit all seinen Fouls und Nickeligkeiten, scheint vergessen zu sein. Lediglich vereinzelte rot-weiße Farben in den T-Shirts der Gläubigen erinnern daran, dass die Türkei gerade ihr bis dato wichtigstes EM-Spiel bestreitet.

Bis zur 55. Spielminute dauert es, bis die letzten Muslime den Gebetssaal verlassen haben. Gerade haben alle wieder ihren Platz gefunden, da ist der Ausgleich da. Männer küssen sich, tragen sich wortwörtlich auf Händen, "Alter Schwede, endlich", entfährt es Mesut Uyan. Seine Worte gehen im Torgeschrei fast unter. Ob Berlinerisch, Hochdeutsch oder Türkisch - beim Jubeln versteht jeder jeden. Kein Wunder, dass sich auch die Stimmung unter den Fans bessert.

Dass mit Hakan Yakin und Eren Derdiyok ausgerechnet ein türkischstämmiges Duo für den zwischenzeitlichen Rückstand sorgte - verziehen und vergessen. "Das darf man nicht so eng sehen, wir haben doch selbst einen Brasilianer im Team", sagt der 35-jährige Uyan. Die letzten Sekunden laufen, ein Mann kann - und will - sich das nicht mehr mitansehen. So bemerkt er es erst, als alle schreien: Der Siegtreffer ist da, nach 93 Minuten fällt das 2:1. Man stürzt übereinander, jubelt und singt. Am Telefon nimmt Mesut Uyan die ersten Glückwünsche entgegen. "Und morgen der nächste Sieg", ruft er - gemeint ist Deutschland. Erst um 23.58 Uhr unterbrechen die Gewinner ihre rot-weiße Feier wieder. Stille kehrt ein, der Ruf des Muezzin ertönt: Zeit für das Nachtgebet.

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