Bernhard Pötter über KINDER : Ein Monster namens Kreativität
Geben Sie Ihrem Kind zum Einschlafen ein Buch, eine Kassette. Erzählen Sie ihm bloß keine Gutenachtgeschichte
In Zeiten von Pisa und Hartz frage ich mich jeden Morgen beim Zähneputzen: Was müssen unsere Kinder können, damit sie das Leben meistern? Sie sollen Lust am Lernen haben. Gern ein Buch in die Hand nehmen. Wissen, wie man mit Kastanien rechnen kann. Wissen, dass man kleineren Geschwistern die Kastanien nicht an den Kopf schmeißt. Kreativ sein. Besser noch: KREATIV sein.
Das klingt so einfach.
Und weil die Kinder uns alles nachmachen, müssen wir im Sinne der Zukunftssicherung für unser Land erst mal jung, dynamisch, kreativ sein. Also komme ich wie jeden Abend nach neun Stunden Creative Workshop im Creative Centre meiner Zeitung vom Creative Writing dampfend vor Creativity nach Hause. Und falle nach dem Abendessen neben meiner kleinen, dreijährigen Kreatur ins Bett: Wenn Tina ins Bett gehen soll, muss ich ihr eine Geschichte erzählen.
„Nicht vorlesen!“ Tina nimmt es ernst mit der Kreativität. „Du sollst mir eine Geschichte erzählen.“
Also gut. Erlebt Hase Hoppel eben wieder mal ein Abenteuer. Die heutige Folge: „Hase Hoppel macht Urlaub.“
„Urlaub?“ fragt Tina. „Hasen machen Urlaub?“
Das ist eines der Probleme bei der Kreativität. Sie nimmt keine Rücksicht auf einen abgekämpften Vater. Und sie lässt sich nicht einfach im Frontalunterricht voll texten. Sie will mitreden. Sie will sich einmischen. Sie hält einfach nicht die Klappe.
„Also, Hoppel fährt mit seinem Roller los“, beginne ich meine Geschichte.
„Fällt er hin?“, fragt Tina ängstlich. „Ratscht er sich das Knie auf?“
„Nein, nein“, beruhige ich meine Tochter. „Er fährt mit dem Roller durch den Wald …“
„Aber er darf im Wald keine Pilze essen!“, ruft sie alarmiert, „die können giftig sein!“
„Nein, nein, er isst keine Pilze. Hoppel hat selber etwas zu essen dabei. Eine Flasche Wasser und Kuchen und …“
„Ich will keinen Kuchen“, sagt Tina. „Lieber Kekse. Und Schokolade.“
„… und Möhren“, sage ich, gemein, wie ich bin. „Hoppel mag nur Möhren, weil sie so gesund sind.“
„Ich mag auch Möhren“, sagt Tina. „Aber noch lieber Jogurt.“
„Also, Hoppel hat auch Jogurt dabei..“
„Aber nicht kleckern!“, ruft Tina.
Ein Buch wäre jetzt schön. Eine Kassette, ein Videofilm. Irgendetwas, was Tina dazu bringt, ruhig zuzuhören. Aber wer redet, macht sich anfällig fürs Dazwischenreden. Das Interaktive ist ein Horror: Chatrooms voller Menschen mit Problemen und Pseudonymen. Politiker, die vom Publikum beschimpft werden und nicht zurückschimpfen dürfen. Anrufbeantwortende Tonbänder bei Fluglinien oder Behörden, die mich zwingen, irgendwelche Tasten zu drücken. Und jetzt auch noch eine interaktive Gutenachtgeschichte. Das zerrt an meinen Nerven. Und an Tinas genauso.
Denn das Abenteuer geht weiter. „Hoppel kommt an eine Straße …“
„Wird er vom Auto überfahren?“ Tina rutscht unter die Decke.
„Nein, nein, natürlich nicht. Er fährt über eine Brücke, und unter ihm ist ein Fluss …“
„Da ist ein Hai drin!“, ruft meine Tochter und drückt sich das Kissen aufs Gesicht. „Der Hai will Hoppel fressen!“
„Da ist kein Hai“, versuche ich sie zu beruhigen. „Hoppel fährt weiter zu dem Haus seines Freundes. Es ist schon dunkel.“
„In dem Haus sind Gespenster“, schluchzt Tina.
„Wie kommst du denn darauf? Im Haus ist nur sein Freund, und sie essen den Kuchen, und dann fährt Hoppel wieder nach Hause durch den Wald …“
„Und im Wald sind Monster!“, kreischt meine Tochter nun. „Ich will nicht schlafen! Du sollst das Licht anlassen! Mama soll kommen!“
Mama kommt. Tröstet ihre Tochter und guckt mich fragend an. „Mein Gott, sie ist ja völlig aufgelöst. Was hast du denn mit ihr gemacht?“
Ich? Gar nichts. Eine Geschichte erzählt. Das fördert ihre Kreativität.
Fotohinweis: Bernhard Pötter KINDER Fragen zur Kreativität? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn: ROTKÄPPCHEN