Bernhard Pötter Wir retten die Welt: Wir wollen unsere Freiheit zurück!
Freunde und Familie, die wir letztens zu Gast hatten, aßen brav ihren Teller leer: Grüner Spargel mit Bechamel-Sauce, Paprikagemüse und dazu ein Gratin aus Süßkartoffeln. Die Laune unseres Sohnes hob sich, als er hörte, dass das alles Biozeugs war. Und vollends begeistert waren die jungen Leute, als ich noch einen draufsetzte: „Das sind alles gerettete Lebensmittel.“
Bei uns um die Ecke hat nämlich ein Supermarkt aufgemacht, der Essen mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum zu Tiefpreisen verkauft. Im „Sirplus“-Markt gibt es alles, was anderswo in die Tonne fliegt: Brot vom Vortag, Joghurt, Käse, Wurst und veganen Aufschnitt mit kurzer Lebenserwartung und sogar Mineralwasser (!) über Ablaufdatum.
Schön sind auch die Fünferpacks von Rittersport oder der 10-Liter-Eimer Majonnaise. Am besten aber gefallen mir Obst und Gemüse. Wenn die Inspiration fehlt, was ich kochen soll, nimmt mir „Sirplus“ die Entscheidung ab: Was gibt’s heute im Angebot? Früher wurde gegessen, was auf den Teller kam. Heutzutage wird gekocht, was nicht in den Müll soll.
Das ist doch die beste aller Welten: Denkfaule werden belohnt, und wir bekommen auch noch relativ billig gute Lebensmittel im Laden. Man könnte auch sagen: „Sirplus“ bedeutet ein Stück mehr Freiheit für uns. Wenn dieser Begriff nicht gerade für Menschen reserviert wäre, die ein Tempolimit auf der Autobahn ablehnen.
Das ist übrigens ein gigantischer Fehler: Wir lassen uns die guten Seiten des Lebens und die positiven Aussichten immer wieder von denen klauen, die allerhöchstens den Stillstand verwalten. Wer seine „Freiheit“ so definiert, dass er mit seinem Stinkediesel überall und immer und am besten mit 200 Sachen fahren darf, besetzt einen Begriff – und obendrein auch noch ein Denkmuster. Wir sind natürlich viel freier, wenn wir uns ohne Angst vor dicker Luft oder noch dickeren Straßenpanzern auf dem Rad oder per Fuß durch die Stadt bewegen könnten. Aber wir gelten als „Verbotsfreunde“, weil die anderen ihre egozentrische Sicht als Freiheit definieren.
Und das ist sogar oft so. Der Kohleausstieg wird nicht als Chance gesehen, endlich eine oder sogar mehrere saubere Industrien aufzubauen, die nachhaltig und zukunftsfähig sind. Sondern als Bedrohung von Arbeitsplätzen, die das Land verwüsten.
Wenn die Wachstumsprognose für Deutschland gesenkt wird, klappern alle mit den Zähnen. Wir könnten das aber auch begrüßen, um dringend über ein anderes Wirtschaften zu reden, weil wir mit immer mehr quantitativem Wachstum gegen die Wand fahren. Steigende Energiepreise? Auweia! Stattdessen könnten wir sagen: Hurra, endlich macht Energiesparen Sinn. Alle bibbern, wenn Energiekonzerne und Autobauer an der Börse absacken. Man könnte auch jubeln: Der Markt bestraft die Branchen, die den Schuss nicht gehört haben.
Freiheit, Zufriedenheit, Glück, Wohlstand, Zukunft, Zusammenhalt. Diese Begriffe müssen wir uns dringend wieder zurückholen. Und das Warnen, Mahnen, Meckern und Schwarzsehen denen überlassen, die sich dagegen stemmen, dass Ökostrom zur Regel wird, Fahrverbote für dreckige Autos gelten, dass Bio-Landwirte gefördert werden und dass das Rauchverbot möglichst schnell auch für Kraftwerke gilt.
Das gute Leben gibt es nicht beim Onlineshop, wo zurückgeschickte Ware als Müll aussortiert und vernichtet wird. Viel eher liegt es leicht angeschrumpelt im Regal. Mit fast abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum.
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