Berlinmusik: Frühling und Unendlichkeit
Techno aus China klingt ja eigentlich schon interessant genug. Und bei der Wahlberlinerin Pan Daijing hatte man in ihrer Musik bisher zudem mit einem gut Teil brachialer Krawallistik zu rechnen. Provokation gehört für sie durchaus zu den gangbaren künstlerischen Wegen.
Doch da sich Noise und Techno seit einigen Jahren bestens verstehen, muss man sich schon einiges einfallen lassen, um mit einem solchen Ansatz noch groß aufzufallen. Bei Pan Daijing lautet die Antwort: Spektrum erweitern, neben Brummen, Kreischen und Sägen noch ein ganzes Füllhorn von krachlosen Klängen zulassen.
Man weiß tatsächlich nie genau, was davon jetzt eventuell echte Instrumente, was in der freien Natur eingesammelte Geräusche sind – auf ihrem Debütalbum kommen neben rein elektronischen Lauten reichlich field recordings zum Einsatz. Von „Lack“, vulgo Mangel, kann bei ihr, so gesehen, keine Rede sein. Eher schon passt der chinesische Teil des Titels, „惊蛰“, was sinngemäß den Frühling meint. Überall regen sich bei ihr die Frequenzen, wollen raus ins Leben, bekommen erste Triebe, beginnen in den ungewöhnlichsten Farben aufzublühen.
Statt in fummeligen Studiositzungen diese Bausteine umständlich zusammenzuschieben, verlief die Arbeit an „Lack 惊蛰“ anscheinend „intuitiv und roh“, wie das Label dazu bemerkt. Ihre Aufnahmen sammelte sie vielmehr während ihrer Konzerte rund um die Welt zusammen. Als wäre damit nicht genug, singt Pan Daijing gelegentlich dazu. Jawohl, singen ist das richtige Wort für ihre Stimmbandaktivitäten, kein Schreien, Brüllen oder anderweitige erwartbare Noise-Artikulationsformen. In diesem Fall gilt: Mehr Vielfalt ist am Ende wirklich mehr, ohne zu viel zu sein.
Auf eine andere Vielfalt greift der gleichfalls in Berlin lebende Brite Claude Speeed zurück. Sein Album „Infinity Ultra“ ist ein Panoptikum verschiedener Zukünfte, wie sie in und außerhalb der elektronischen Musik entworfen oder versprochen wurden. Nicht alle von ihnen versprechen rosig zu werden, manche begnügten sich mit der Aussicht auf eine gute Party, andere bilden Zwischenstände der in ihrer Zeit ultimativen technischen Entwicklungen ab. Alles aus einer nostalgischen Rückschau. Verlust schimmert durch diese artifiziellen Landschaften öfter mal hindurch, das zentrale Jahrzehnt scheinen die Neunziger zu sein. Waren ja auch keinesfalls schlecht, was die Musik aus Strom angeht.
Tim Caspar Boehme
Pan Daijing: „Lack 惊蛰“ (PAN)
Claude Speeed: „Infinity Ultra“ (Planet Mu)
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