Berlinmusik: Fiebermusik, evil
Heute hören wir nur ganz schöne, ruhige Musik, die einem bettlägerigen, grippal geschwächten Rezensenten zuzumuten ist. Kein Death Metal und so. Stattdessen süße, etwas traurige Songwriter-Perlen der Band Dear Reader, die gerade ein neues Album namens „Day Fever“ (übrigens ein einst gebräuchliches Synonym für „Hysterie“) veröffentlicht hat – das passt vom Titel her auch zum leicht fiebrigen Zustand. Dear Reader sind keine Unbekannten in der weiten Welt des Indie-Musikgeschäfts, die Gruppe um die südafrikanische Musikerin Cherilyn MacNeil blickt bereits auf vier überwiegend gefeierte Indie-Pop-Alben zurück – auch für den Soundtrack von „Oh Boy“ zeichnete die Allroundkönnerin verantwortlich.
MacNeil, die seit einigen Jahren in Berlin lebt, hat sich an die US-amerikanische Westküste zu Songwriter John Vanderslice ins Studio begeben, um „Day Fever“ aufzunehmen. Mitgebracht hat sie 11 Songs zwischen Kammer-Pop und Indie-Folk mit einer oft im Vordergrund stehenden Stimme, die nuancenreich schwingt, fast wie eine singende Säge in humaner Gestalt. Die Stücke basieren auf reduzierten Piano- oder Gitarren-Parts und haben mich an die Solosachen von Portishead-Sängerin Beth Gibbons erinnert; auch PJ Harvey oder Neo-Folkerinnen wie Joanna Newsom kommen einem zuweilen in den Sinn. Hervorragende Fiebermusik, feinfühlig komponiert, und es geht auch oft um Suffering und Weltschmerz, also: Was will man mehr?
Nein, derart temperiert will man keine Experimente, und so greift man voller Vertrauen zum neuesten Release aus dem Hause Späti Palace Records, nämlich der Debüt-EP „Haunted Heart“ von Highest Sea.
Und bei dem Trio um Sängerin und Gitarristin Leila Zanzibar handelt es sich um eine richtige Entdeckung; es gehört zum Besten, das dieses kleine Berliner Label bislang veröffentlicht hat.
Mid-Tempo-Gitarrenrock mit coolem Gesang Leila Zanzibars ist da zu hören, irgendwie evil, irgendwie kaputt, irgendwie velvetundergroundmäßig. Mich haben Highest Sea auch an die leider immer gänzlich unbekannt gebliebenen Victory At Sea erinnert, Sonic Youth sind sicher eine weitere Referenz. Auf „Haunted Heart“ befinden sich vier echte Slow-Rock-Hits, man kann selbst fiebernd in Zeitlupengeschwindigkeit mitwippen. Mitfiebern sozusagen. Jetzt aber wieder schön Tee aufgießen. Cheers. Jens Uthoff
Dear Reader: „Day Fever“ (City Slang/Universal)
Highest Sea: „Haunted Heart“ (Späti Palace)
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