Berliner Tagebuch: Waren aller Art
■ Berlin vor der Befreiung: 3. März 1945
Foto: J. Chaldej/Voller Ernst
Eine ausgesprochene Unsitte scheint sich infolge der Stromsperre eingebürgert zu haben. Es gibt den ewigen „Bunkergänger“, zumeist weiblichen Geschlechts. Diese setzen sich sofort nach Ausschalten des Stromes in Marsch und warten dann stundenlang vor einem Bunker. So standen vor dem LS-Bunker am Hermannplatz in Neukölln am 24. 2. zwischen 19 Uhr und 20 Uhr etwa 1.000 Menschen. Auf die Frage, ob Fliegeralarm in Aussicht sei, wurde von einigen geantwortet: „Das gerade nicht, aber sicher ist sicher, und der Strom ist auch ausgeschaltet!“
Sehr verbittert sind viele Berliner Mütter darüber, daß sie oftmals nicht mehr in einen öffentlichen Bunker hineinkönnen, weil dieser angeblich überfüllt sei. Aber auch sonst seien sie stets im Nachteil, weil man sie ohne Rücksicht beiseite dränge, wobei die eigenen Volksgenossen manchmal noch schlimmer seien als die Ausländer. Warum werde nicht veranlaßt, daß für Mütter mit Kleinkindern bei Luftgefahr besondere Räume freizuhalten seien?
Der Alexanderplatz und seine Umgebung mit seinen oftmals berüchtigten Lokalen bietet nach wie vor das gleiche Bild. Ausländer sind ständig anzutreffen und vor allem zu Zeiten, wo jeder andere arbeitet. Der Schwarze Markt blüht. Brot wird mit 50 bis 70 Mark bezahlt.
Zigaretten kosten 5 Mark das Stück, 50 gr. Tabak bis 120 Mark. Es sind immer die gleichen Gesichter, die anzutreffen sind. Kombinierte Heeres-Polizei-Streifen sind oft zu treffen, doch kontrollieren diese in erster Linie Soldaten. Zivilstreifen waren wenige zu beobachten. Viel zu wenig werden Frauen und Mädchen überprüft. Diese treiben nach wie vor das Geschäft offener und heimlicher Prostitution. Diese sind es auch, die viel Geld in die Hände bekommen. So war von Soldaten zu hören, daß sie 40 bis 50 Mark für den Beischlaf bezahlt haben. Diese Frauen können sich verknappte Waren aller Art besorgen. Die Dirnen haben ihre Hotels und zu jeder Zeit ein Zimmer an der Hand, während Durchreisende nicht wissen, wie sie unterkommen sollen. Hans Dieter Schäfer
Auszug aus den Berichten über den „Sondereinsatz Berlin“. Die für die Führung der Wehrmacht erstellten „Berichte“ gaben ungeschminkt die Stimmungslage wieder. Zitiert nach: Hans Dieter Schäfer „Berlin im Zweiten Weltkrieg“, Piper Verlag, 1985
Recherche: Jürgen Karwelat
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