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Berliner TagebuchNebelhafter Wahn

■ Berlin vor der Befreiung: 15. März 1945

Foto: J. Chaldej/Voller Ernst

Es wird mit Bestimmtheit behauptet, daß einige der großen Leuchten innerhalb der nationalsozialistischen Propaganda und Pressepolitik kaltgestellt seien, und zwar: Reichspressechef Dr. Dietrich, sein Stellvertreter Sündermann, Ministerialrat Stephan und der Sudentendeutsche Rudolf Fischer. Der letztere ist unter dem Namen Rufi bekannt; er ist eine merkwürdige Mischung: brutaler Nazi und Sören Kierkegaard- Forscher. Wir verbrachten viele Stunden mit Gesprächen über den dänischen Denker.

Mindestens ebenso merkwürdig war es, mit einem Mann wie Alfred Rosenberg über Grundtvig (Anm.: Nikolaj Grundtvig, 1783–1872, lutherischer Bischof und Begründer der Volkshochschulbewegung) zu sprechen.

Es ist kaum zu begreifen, daß dieser Mann, der Millionen von jungen Seelen mit seinem „Mythos des XX. Jahrhunderts“ vergiftete, der an die Stelle des Wissens um die Erbsünde das Dogma vom Erbadel setzte, der Christus verwarf, um dafür einen heidnischen Gottglauben zu predigen –, daß ausgerechnet dieser Mann für Nikolaj Frederik Severin Grundtvig schwärmt!

Für Alfred Rosenberg geht eine gerade Linie von Grundtvig zu Hitler! Als der Nazi-Hohepriester (Rosenberg also) vor einigen Jahren vierzig Jahre alt wurde, schenkten die Mitarbeiter im Außenpolitischen Amt ihm zwei Bände mit Grundtvigs Werken in deutscher Übersetzung.

Diese beiden Bände wurden in Rosenbergs ständiges Reisegepäck eingereiht. Der Dichter Thilo von Trotha erzählte mir später, Rosenberg gehe niemals auf eine Vortragsreise, ohne Grundtvig im Koffer mit sich zu führen. Seine „Weltanschauung“ wurde jedoch in keiner Weise von dem nordischen Volkserwecker beeinflußt. Im Gegenteil; sie war nebelhafter Wahn und blieb nebelhafter Wahn. Jacob Kronika

Aus: „Der Untergang Berlins“, Flensburg 1946. Der dänische Journalist Kronica war zwischen 1932 und 1945 Berlin-Korrespondent dänischer Zeitungen. Von Nazi-Behörden war Kronika zudem als Sprecher der dänischen Volksgruppe in Südschleswig anerkannt. Er bewegte sich daher ständig zwischen dem Vorwurf der Kollaboration und des Widerstands.

Recherche: Jürgen Karwelat

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