Berliner Tagebuch: Vögte in Braun
■ Berlin vor der Befreiung: 21. März 1945
Foto: J. Chaldej/Voller Ernst
Schützengräben werden in den Vorgärten der Siedlungen aufgeworfen, Barrikaden wachsen vor den Eisenbahnbrücken und an den Straßenkreuzungen. Erst geschah es heimlich, damit keiner erschrecke. Nun müssen alle Männer, die da sind, an ihrem kargen Feierabend den Spaten nehmen. Und die Vögte in Braun dirigieren mit gespielter Leichtigkeit das Arrangement zum Totentanz. Sie herrschen über Frauen, die Ziegeln schleppen statt Kindern Märchen zu erzählen. Ich habe diese Vögte lächeln und scherzen gesehen: über den Strom, der jetzt nur noch einschaltet, wenn der Alarm unmittelbar bevorsteht, über das Gas, das nur durch die Schläuche strömt, wenn jedermann im Keller ist, über das Kino, das wegen ewiger Stromsperre aufgegeben hat, zu spielen. Sie lächeln und scherzen. Sie haben den Auftrag, noch die Katastrophe zum komödiantischen Jahrmarkt herunterzuscherzen. Matthias Menzel
Aus: „Die Stadt ohne Tod“, 1946. Menzel ist das Pseudonym für den Journalisten Karl Beer (1909–1979). 1946 gab es Auseinandersetzungen über sein Tagebuch, weil der Autor „den ganzen Krieg über“ den „Reich-Artikeln von Goebbels Konkurrenz gemacht“ habe.
Recherche: Jürgen Karwelat
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